Mond über Manhattan
Hand. Ja, so ist’s richtig, ein guter fester Griff. Genau so. Und jetzt schütteln. So ist’s recht, ein Abschiedsschütteln, das bis ans Ende der Zeiten vorhalten soll.»
Alle ein bis zwei Wochen schickte Victor mir eine Postkarte, meist knallbuntes Touristenzeug: die Rocky Mountains bei Sonnenuntergang, Werbefotos von Motels, Kakteen und Rodeos, Vergnügungsranches, Geisterstädte, Wüstenpanoramen. Manchmal standen die Grüße im Ring eines gemalten Lassos, und einmal sprach sogar ein Maultier mittels einer Sprechblase über seinem Kopf: Grüße aus Silver Gulch. Auf der anderen Seite knappe, kaum lesbar hingekritzelte Mitteilungen, aber ich gierte nicht nach Neuigkeiten von meinem Onkel, gelegentliche Lebenszeichen waren mir viel wichtiger. Das eigentliche Vergnügen aber lag in den Karten selbst, und je dämlicher und geschmackloser sie waren, desto glücklicher nahm ich sie in Empfang. Jede, die ich in meinem Briefkasten fand, sagte mir, daß unser gemeinsamer Spaß weiterging, und die allerbesten (ein Bild von einem leeren Restaurant in Reno, eine fette Frau zu Pferde in Cheyenne) heftete ich sogar an die Wand über meinem Bett. Das leere Restaurant leuchtete meinem Zimmergenossen noch ein, aber die Reiterin stellte ihn vor ein Rätsel. Ich erklärte, sie sei Dora, der Exfrau meines Onkels, geradezu unheimlich ähnlich. Und so, wie es auf der Welt zugehe, sagte ich, könne es durchaus sein, daß diese Frau tatsächlich Dora sei.
Da Victor nirgendwo allzulange blieb, kam ich kaum dazu, ihm zu antworten. Ende Oktober schrieb ich ihm einen Neun- Seiten-Brief über den New Yorker Stromausfall (ich war mit zwei Freunden in einem Fahrstuhl hängengeblieben), den ich aber erst im Januar abschickte, als die Moon Men ihr dreiwöchiges Engagement in Tahoe antraten. Oft schreiben konnte ich also nicht, dennoch gelang es mir, geistig mit ihm in Kontakt zu bleiben, indem ich seinen Anzug trug. Anzüge waren damals bei Studenten nicht gerade in Mode, aber ich fühlte mich wohl darin, und da ich praktisch ohnehin nichts anderes hatte, trug ich ihn weiterhin Tag für Tag, das ganze Jahr hindurch. In angespannten und unglücklichen Momenten war es mir ein besonderer Trost, von den warmen Kleidern meines Onkels umhüllt zu sein, und manchmal stellte ich mir vor, der Anzug halte mich buchstäblich zusammen, wenn ich ihn nicht trüge, würde mein Körper auseinanderfliegen. Er wirkte wie eine schützende Hülle, eine zweite Haut, die mir die Schläge des Lebens vom Leib hielt. Im Rückblick wird mir klar, was für eine seltsame Figur ich abgegeben haben muß: hager, unordentlich, ernst, ein junger Mann, der mit dem Rest der Welt offenbar nicht in Einklang war. Und in der Tat, ich wollte mich gar nicht anpassen. Wenn meine Kommilitonen mich für verschroben hielten, war das nicht mein Problem. Ich war der sublime Intellektuelle, das finstere und selbstherrliche zukünftige Genie, der feige Malvolio, der sich von der Menge fernhielt. Ich muß schier erröten bei der Erinnerung an die lächerlichen Posen, die ich damals einnahm. Ich war ein groteskes Gemisch aus Schüchternheit und Arroganz, hin und her gerissen zwischen langem, verlegenem Schweigen und heftigen, ungestümen Ausbrüchen. Wenn es mich überkam, verbrachte ich ganze Nächte in Bars, trank und rauchte, als ob ich mich umbringen wollte, zitierte Verse von unbedeutenden Dichtern des sechzehnten Jahrhunderts, erging mich auf lateinisch in dunklen Anspielungen auf mittelalterliche Philosophen, tat alles mögliche, um meine Freunde zu beeindrucken. Achtzehn ist ein schreckliches Alter, und während ich in der Überzeugung umherlief, erwachsener zu sein als meine Mitschüler, hatte ich mich in Wahrheit bloß auf eine andere Art des Jungseins verlegt. Mehr als alles andere war der Anzug das Kennzeichen meiner Identität, ein Sinnbild dessen, wie ich von anderen gesehen werden wollte. Objektiv betrachtet, war mit dem Anzug alles in Ordnung. Es war ein dunkler, grünlicher, kleinkarierter Tweed mit schmalen Aufschlägen - ein robustes, gutgearbeitetes Kleidungsstück -, doch nachdem ich ihn einige Monate ständig getragen hatte, machte er allmählich einen eher hinfälligen Eindruck, hing wie ein krauser Einfall, wie ein schlaffes Wollgewirr an meinem dünnen Körper. Natürlich wußten meine Freunde nicht, daß ich ihn aus Sentimentalität trug. Mit meinem nonkonformistischen Äußeren befriedigte ich nämlich auch das Verlangen, meinen Onkel bei mir zu haben, und dabei
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