Engelsstern
KAPITEL 1
Da war es wieder.
Das Flattern. Die Flügel.
Ich kniff die Augen zusammen und beruhigte mich mit dem Gedanken, dass das hier auf keinen Fall real sein konnte. Ein Traum – wieder mal.
Aber da strich tatsächlich ein Luftzug über meine Haut, und eine Haarsträhne wehte über mein Gesicht. Die Luft war in Bewegung geraten. Mein Herz schlug schneller. Ich kämpfte gegen die aufsteigende Panik an und tat das einzig Mögliche.
Ich machte die Augen auf.
Langsam wurde ich wieder klar im Kopf. Ich sah den seltsamen langen Schatten an der Zimmerdecke nach und versuchte, mich an den Traum zu erinnern.
Es war ein Traum, oder? Ein Traum, der real wurde, sobald ich die Augen zumachte. Ein Traum, dem ich entkommen wollte, dem ich aber nachjagte, sobald meine Augen offen waren. Ich konnte immer noch fühlen, wie er mich angesehen hatte, mit Augen wie die Nacht, tiefschwarz und furchtlos, und mich beobachtete, während ichim Schlaf um friedlichere, normalere Träume kämpfte – aber jetzt war es vorbei. Ich war wach.
Für März war es heiß in meinem Zimmer. Der winzige Ventilator stand noch im Schrank und wartete auf den Sommer. Deshalb war ich überrascht, wie klamm meine Hand war, als ich durch meine langen, feuchten Haare strich, die sich eben noch sanft im Wind bewegt hatten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ins Bett gekommen war, aber da lag ich und zitterte, wie in so vielen Nächten davor.
An Schlaf war nicht mehr zu denken, also stand ich mühsam auf und schlurfte zu meinem Computer, der unabsichtlich die ganze Nacht lang angeblieben war.
Aus der Werbung starrten mich Kressetiere aus Ton an.
Kr … kr … kr … und Tschüss.
Ich hatte zwei Mails im Posteingang und klickte sie gähnend an. Die erste war ein Büchergutschein zum Ausdrucken.
»Zwanzig Prozent weniger lohnt sich«, murmelte ich verschlafen. Ein Blick auf mein überfülltes Bücherregal machte mich leicht verlegen. »Eins mehr, was soll’s.«
Meine Mutter ist Bibliothekarin. Sie liegt mir seit Jahren in den Ohren, Bücher auszuleihen, anstatt dafür mein gutes Taschengeld auszugeben, aber es nützt nichts. Ich bin süchtig.
Ich klickte die nächste Mail an, und meine Nackenhaare stellten sich auf. Sie war von Brynn Hanson – die perfekte, puschelschwingende, selbst ernannte Königin derCarver Highschool. Leider war ich ihr erklärtes Lieblingsopfer. Mit bösen Vorahnungen machte ich die Mail auf.
Da stand nur ein Wort, aber das reichte, um mein Blut zum Kochen zu bringen.
Freak .
Ich las es noch mal. Und immer wieder, weil ich nicht fassen konnte, dass ihr Hass einen Weg in meinen Computer gefunden hatte – dass tatsächlich ich gemeint war. Ich klickte schnell auf »Löschen«, als würde ich einen ekligen Wurm loswerden wollen.
»W enn Claire das hört«, murmelte ich und überlegte, wie meine beste Freundin mit so was umgehen würde. Wahrscheinlich würde sie die Nachricht an Brynn zurückschicken und sie mit den eigenen Waffen schlagen.
Und ich? Ich hoffte einfach, dass die Nachricht für immer gelöscht war.
Mein lindgrüner iPod-Ständer zeigte 6 : 12 Uhr an. Ich stand auf, streckte mich und deckte die Augen mit den Händen ab, um nicht mein ansonsten völlig unmodernes Zimmer sehen zu müssen. Poster von Evanescence und Zeichnungen von Engeln hingen überall an den helllila Wänden, aber sonst gab es wenig Hoffnung. Ich zog die Bettdecke glatt, legte den zerlesenen Band von Der geheime Zirkel weg und machte mich für die Schule fertig. Claire würde sicher in Kürze in ihrem kleinen weißen Cabrio vor der Tür stehen und hupen. Der Schulbus kam nicht in Frage.
Erinnerungen an mein zweites Schuljahr kamen hoch. In dem Jahr hatte Brynn angefangen, mich zu quälen.Sie hatte sich über die Mütze lustig gemacht, die meine Tante Karen für mich gehäkelt hatte. Das und das Spiegelei auf Toast zum Frühstück hatten dazu geführt, dass ich Eddie Carmichaels neuen Pullover vollkotzte.
Kein guter Tag damals.
Heute nehme ich manchmal immer noch den Bus zur Schule. Und Brynn? Brynn hat zu ihrem sechzehnten Geburtstag letztes Jahr ein BMW Z3 Cabrio bekommen.
Ich hatte keine Ahnung, warum ich ganz oben auf ihrer Hassliste stand. Ich hatte von vielem keine Ahnung.
Ich strich mit dem Finger über den kleinen Silberrahmen auf der Kommode. Darin steckte das einzige Foto von meinem Vater, das ich besaß. Meine Eltern hatten nie geheiratet, und meine Mutter sprach niemals über ihn. Vielleicht hatte sie Angst, dass
Weitere Kostenlose Bücher