Mondspiel: Novelle (German Edition)
1
Jessica Fitzpatrick erwachte schreiend, und ihr Herz stampfte im Rhythmus des Entsetzens. In der Dunkelheit ihres Zimmers war die Furcht ein atmendes Lebewesen, dessen Gewicht sie unter sich begrub. Sie lag hilflos da und konnte sich nicht von der Stelle rühren. Sie schmeckte die Angst in ihrem Mund und fühlte, wie sie durch ihre Adern strömte. Um sie herum schien die Luft so dick zu sein, dass ihre Lunge brannte und sich nach Sauerstoff verzehrte. Sie wusste, dass sich tief in den Eingeweiden der Erde etwas Ungeheuerliches regte. Im ersten Moment lag sie erstarrt da und lauschte angestrengt dem Murmeln von Stimmen, die sich hoben und senkten und Worte in einer uralten Sprache summten, die niemals gesprochen werden sollte. Glühende rote Augen sahen sich suchend im Dunkeln um und forderten sie auf, näher zu treten. Jessica fühlte die Macht dieser Blicke, als sie sich auf sie richteten und noch dichter an sie herankamen. Sie riss ihre eigenen Augen auf, denn der Drang zu fliehen war stärker als alles andere.
Der Raum um sie herum schwankte, und sie wurde aus der schmalen Koje auf den Boden geschleudert. Die kalte Luft riss sie augenblicklich aus ihrem Alptraum heraus, und sie erkannte, dass sie nicht alle geborgen zu Hause in
ihren Betten lagen, sondern sich inmitten eines heftigen Unwetters in der Kajüte eines wüst schaukelnden Bootes befanden. Das Boot wurde von einer gewaltigen Welle zur nächsten geschleudert und bekam einiges ab.
Jessica kam unbeholfen auf die Füße und klammerte sich an den Rand der Koje, als sie sich mühsam zu Tara und Trevor Wentworth schleppte, den beiden Kindern, die einander mit blassen, verängstigten Gesichtern eng umschlungen hielten.Tara schrie, und ihr entsetzter Blick hatte sich auf Jessica geheftet. Auf halbem Weg zu den Zwillingen wurde Jessica vom nächsten wütenden Aufbäumen des Bootes wieder zu Boden geworfen.
»Trevor, zieh deine Schwimmweste sofort wieder an!« Auf allen vieren kriechend erreichte sie die beiden Kinder und nahm sie in die Arme. »Fürchtet euch nicht, es wird schon alles gutgehen.«
Das Boot wurde von einer Welle hochgehoben, schwankte auf dem Wellenkamm und glitt auf der anderen Seite schnell hinab, wobei die drei in alle Richtungen geschleudert wurden. Salzwasser strömte auf das Deck, raste die Stufen hinunter in die Kajüte und überzog den Boden mit einer Schicht eiskalter Nässe. Tara schrie laut auf, klammerte sich an den Arm ihres Bruders und versuchte verzweifelt, ihm beim Schließen seiner Schwimmweste zu helfen. »Das ist er. Er ist schuld. Er will uns umbringen.«
Jessica schnappte entsetzt nach Luft. »Tara! Niemand kann das Wetter kontrollieren. Es ist ein Sturm. Nichts weiter als ein ganz gewöhnliches Unwetter. Captain Long wird uns unbeschadet zur Insel bringen.«
»Er ist böse. Ein Ungeheuer. Ich will nicht hingehen.« Tara schlug sich die Hände vor das Gesicht und schluchzte.
»Ich will nach Hause. Bitte, Jessie, bring mich nach Hause.«
Jessica überprüfte Trevors Schwimmweste, um sich zu vergewissern, dass ihm nichts passieren konnte. »Sag so etwas nicht, Tara. Trev, bleib hier bei Tara. Ich sehe nach, was ich tun kann, um zu helfen.« Damit die Kinder ihre Worte hörten, musste sie die Stimme erheben, um sich gegen das Heulen des Windes und das Tosen des Meeres durchzusetzen.
Tara warf sich in Jessicas Arme. »Geh nicht weg – wir werden sterben. Ich weiß es genau – wir werden alle sterben. Es wird uns so ergehen wie Mama Rita.«
Trevor schlang die Arme um seine Zwillingsschwester. »Nein, wir werden nicht sterben, Schwesterchen, weine nicht. Captain Long hat schon viele schlimme Stürme überstanden«, beteuerte er ihr. Er blickte mit seinen stechenden blauen Augen zu Jessica auf. »Stimmt’s, Jessie?«
»Stimmt genau, Trevor«, bestätigte sie. Jessica hielt sich am Treppengeländer fest und machte sich an den Aufstieg zum Deck.
Der Regen fiel in Strömen und schwarze Wolken brodelten am Himmel. Der Wind erhob sich zu einem gespenstischen Pfeifen. Jessica hielt den Atem an und beobachtete, wie Long sich damit abmühte, das Boot durch die Wogen zu steuern und sie näher an die Insel heranzubringen. Es schien der uralte Kampf zwischen Mensch und Natur zu sein. Langsam zeichneten sich die kompakten Umrisse der Insel durch den strömenden Regen ab. Salzwasser sprühte auf, und die Gischt wurde von den Felsen zurückgeworfen, doch als sie sich dem Ufer näherten, wurde das Meer ruhiger. Sie wusste, dass
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