Mondspiel: Novelle (German Edition)
erwidert, er sei ein Renaissance-Mensch und gehöre in ein Schloss oder einen Palast. Er hatte sie mit einem imaginären Schwert verfolgt und ihr von furchtbaren Fallen in Geheimgängen erzählt.
Rita Fitzpatrick hatte geweint, als sie dieses Haus gesehen hatte, und sie hatte Jessica erzählt, wie sehr sich Dillon an seine musikalischen Träume geklammert und behauptet hatte, der Bau des Hauses symbolisiere seine Auferstehung aus der Asche. Aber während der Monate im Krankenhaus, nachdem Dillon die Schmerzen und die Qualen seiner furchtbaren Verbrennungen ertragen hatte und sich darüber klargeworden war, dass sein Leben
nie mehr zur Normalität zurückkehren würde, war der Punkt gekommen, an dem das Haus für ihn und für alle, die ihn kannten, zum Symbol der Dunkelheit geworden war, die sich in seine Seele geschlichen hatte. Jetzt ließ der Anblick des Hauses die beängstigende Vorahnung in Jessica aufkeimen, dass Dillon ein vollkommen veränderter Mann war.
Sie starrten das riesige Ungetüm an und rechneten fast damit, einen Geist zu sehen, der einen der Fensterläden aufstieß und sie vertrieb. Mit Ausnahme von zwei ihnen zugewandten Fenstern im zweiten Stock lag das Haus im Dunkeln und erweckte so den Eindruck, als würde es aus zwei Augen zurückstarren. Geflügelte Kreaturen schienen an den seitlichen Hauswänden hinaufzuklettern. Das gesprenkelte Mondlicht verlieh den in Stein gemeißelten Wesen eine gewisse Lebhaftigkeit.
»Ich will da nicht reingehen«, sagte Tara und wich zurück. »Wie das aussieht …« Sie ließ ihren Satz unvollendet und hielt sich an der Hand ihres Bruders fest.
»Richtig böse«, half Trevor ihr auf die Sprünge. »Wirklich wahr, Jess, wie eines dieser Spukhäuser in den alten Filmen. Es sieht aus, als würde es uns anstarren.«
Jessica biss sich auf die Unterlippe und warf einen wachsamen Blick über ihre Schulter. »Ihr beide habt zu viele Gruselfilme geguckt. Damit ist jetzt Schluss.« Das Haus sah viel schlimmer aus als alles, was sie jemals in einem Film gesehen hatte. Es wirkte wie ein finster grübelndes Ungetüm, das stumm auf arglose Beute wartete. Wasserspeier kauerten in den Dachtraufen und starrten sie mit ausdruckslosen Augen an. Sie schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben. »Keine solchen Filme mehr. Ihr bringt mich dazu, dass ich es auch schon so sehe.« Sie
rang sich ein unbehagliches, kleines Lachen ab: »Massenhalluzination. «
»Wir sind zwar nur eine kleine Masse, aber bei mir klappt es.« Eine Spur von Humor schwang in Trevors Stimme mit. »Mir ist eiskalt. Wir sollten besser reingehen. «
Keiner rührte sich von der Stelle. Sie starrten weiterhin stumm das Gebäude an und beobachteten, wie der Wind und der Mond den Steinmetzarbeiten scheinbar Leben einhauchten. Nur das Geräusch des erbarmungslosen Regens erfüllte die Nacht. Jessicas Herz schlug heftig in ihrer Brust. Sie konnten nicht umkehren. In den Wäldern trieb sich etwas herum. Es gab kein Boot, zu dem sie zurückkehren konnten, nur den Wind und den stechenden Regen. Aber das Haus schien sie mit derselben Bösartigkeit anzustarren wie die vermummte Gestalt in den Wäldern.
Dillon hatte keine Ahnung, dass sie in der Nähe waren. Sie hatte geglaubt, sie würde Erleichterung verspüren und sich sicher fühlen, sobald sie ihn erreicht hatten, stattdessen fürchtete sie sich vor seinem Zorn. Und sie fürchtete auch, was er in Gegenwart der Zwillinge sagen würde. Es würde ihm nicht gefallen, dass sie ihm ihr Eintreffen in keiner Weise angekündigt hatte, aber hätte sie ihn angerufen, hätte er ja doch nur gesagt, sie solle nicht herkommen. Er sagte ihr immer, sie solle nicht kommen. Sie hatte zwar versucht, sich damit zu trösten, dass er in seinen letzten Briefen etwas fröhlicher geklungen und mehr Interesse an den Zwillingen gezeigt hatte, doch sie konnte sich nicht vormachen, sie würden ihm willkommen sein.
Trevor setzte sich als Erster in Bewegung und klopfte Jessica aufmunternd auf den Rücken, als er sich an ihr vorbeidrängte und einen Schritt auf das Haus zuging.
Tara folgte ihm, und Jessica bildete das Schlusslicht. Irgendwann war die nähere Umgebung des Hauses landschaftlich gestaltet worden, die Sträucher waren gestutzt und Blumenbeete angelegt worden, doch es entstand der Eindruck, als hätte sich schon seit einiger Zeit niemand mehr darum gekümmert. Eine große Skulptur springender Delfine erhob sich aus einem Teich am hinteren Ende des Vorgartens. An den verwilderten
Weitere Kostenlose Bücher