Monströs (German Edition)
zufolge bedroht wurde. Er durfte nur auf keinen Fall zu tief in seine alten Gewohnheiten eintauchen, dann würden die sorgsam aufgebauten Sicherungen in seinem kranken Gehirn auch standhalten. Er musste einen imaginären Schutzwall um sich errichten, der es ihm erlaubte, die Dinge auf Distanz zu halten. Auch wenn er in Bezug auf seinen Bruder keine emotionale Bindung mehr hatte, so konnte er doch die Tatsache, dass sie vom selben Blut abstammten, nicht gänzlich außer Acht lassen.
Blut, das Wort rief Bilder in ihm hervor, bei denen sich die meisten Menschen übergeben hätten. Er hingegen hatte sich notgedrungen daran gewöhnt. Er musste Raphael beschützen, auch wenn man Raphael vorwarf, abartig zu sein, weil es ihn keine Überwindung kostete, oder gar Emotionen in ihm hervorrief, wenn er einem Menschen bei lebendigem Leib mit dem Messer ein Auge entfernte. Das war für Raphael doch nur ein Beruf wie jeder andere auch. Es scheute Raphael nicht, wie Menschen von innen aussahen. Nur war er kein Chirurg geworden, sondern einer, der dafür sorgte, dass die Ärzte etwas hatten, das sie wieder zusammenflicken konnten.
Er stieg aus und blickte die Straße hinunter. Es war jetzt Viertel nach eins. Es regnete und seine Bluejeans sog den prasselnden Regen auf wie ein Schwamm. Bevor er in den überdachten Eingangsbereich des Mietshauses huschte, sah er an der Fassade des achtstöckigen Hauses empor. Sie war noch dreckiger, als er sie in Erinnerung gehabt hatte.
Er hatte nie verstanden, warum sein Bruder noch immer in der alten Bruchbude ihrer früh verstorbenen Tante wohnte. Sein Bruder war reich. Er hätte sich eine Villa in Frankfurts Nobelgegend leisten können. Doch er wollte nicht. Er hatte immer gesagt, hier unter all den normalen Menschen, würde er sich wohler fühlen. Er brauche das Milieu, seine Basis, um nicht zu verweichlichen.
Verrückt, dachte er. Aber wenn er es in Gegenwart seines Bruders ausgesprochen hätte, dann hätte er die Antwort geradezu provoziert.
»Wer von uns beiden ist denn hier der Verrücktere?«, hätte sein Bruder gesagt und dabei kalt gelächelt.
Er klingelte auf dem namenlosen Schild und erwartete, die Stimme seines Bruders über die Sprechanlage zu hören. Doch es geschah nichts. Er drückte drei weitere Male auf den Klingelknopf. Wieder nichts. Dann öffnete sich die schwere Eingangstür und ein Junge mit blonder Zottelmähne von acht oder neun Jahren kam aus dem Haus.
Er nutzte die Gelegenheit und stellte den Fuß in die Eingangstür. Als der Junge um die Ecke verschwunden war, betrat er das Treppenhaus. Es gab keinen Fahrstuhl.
Die Treppe hinauf in den achten Stock zog sich endlos hin. Sein Bruder bezeichnete es als kostenlose tägliche Fitnessübung, sie hinaufzusteigen. Er selbst empfand es als sinnlose Quälerei. Er erklomm Stockwerk für Stockwerk und stellte dabei bedauernd fest, dass die Pfunde, die er in den vergangenen Jahren zugelegt hatte, ihm dabei erheblich zu schaffen machten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er die Etage mit der Wohnung seines Bruders erreicht. Er hielt sich am Treppengeländer fest und schnaufte. Schweißperlen rannen von seiner Stirn. Er ging ein paar Schritte den Flur entlang. Dann sah er die Wohnungstür. Sie stand einen Spalt weit offen. Auf dem Boden vor der Tür lagen Splitter. Aufgebrochen, dachte er. Ein Schreck durchfuhr seine Glieder. Sein erster Impuls war in die Wohnung zu stürmen, doch sein Handy hielt ihn im selben Moment davon ab. Es klingelte. Er hatte eine digitale Kopie des schrillen lauten Klingelns der alten Telefone von vor dreißig Jahren eingestellt. Besser hätte er die Aufmerksamkeit eines potentiellen Einbrechers, der sich vielleicht noch in der Wohnung befand, nicht auf sich lenken können. Er lehnte sich an die Wand neben der Tür und schaute auf das Display des Handys. Es meldete einen unbekannten Anrufer. Kurz zögerte er. Dann nahm er das Gespräch entgegen.
Die Stimme am anderen Ende hatte nichts Menschliches. Sie klang wie ein Roboter. Der Anrufer benutzte eine Maschine oder eine Software zur Stimmenverfremdung. Doch das, was die Stimme sagte, war noch viel schlimmer.
»Gehen Sie rein und warten Sie auf weitere Anweisungen. Wenn Sie versuchen sollten, Ihren Bruder zu befreien, stirbt er. Wenn Sie ohne unsere Zustimmung dieses Telefonat beenden, stirbt ihr Bruder ebenfalls. Wenn Sie ihn sehen, wissen Sie, dass wir es ernst meinen.«
Völlig überrumpelt folgte er der Aufforderung der Stimme und öffnete die
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