Monströs (German Edition)
Bildschirm den Raum, in dem er stand, und er sah sich selbst und seinen Bruder. Mit einem Mal war ihm klar, dass in diesem Moment über die Webcam des Notebooks eine Liveübertragung der Ereignisse aus diesem Zimmer ins Internet begonnen hatte und unzählige Menschen in der ganzen Welt zuschauen konnten.
Wer war so verrückt, so etwas zu tun? Wer war überhaupt so irre, sich mit seinem Bruder anzulegen? Und warum hatten die, die ihn so zugerichtet hatten, ihn am Leben gelassen? Fragen über Fragen. Im gleichen Moment meldete sich die Stimme wieder.
»Öffnen Sie die oberste Schublade des Sideboards.«
»Was soll das?«, flüsterte er und öffnete die Schublade.
Der Inhalt zerrte weiter an seinen Nerven. Vor ihm lag eine Automatikpistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer.
»Eddie, Sie nehmen jetzt die Waffe und dann erschießen Sie Ihren Bruder!«
3
Martin Waller war noch nie zuvor im Hochgebirge gewesen. Jetzt war er noch keine zwei Stunden hier und er hätte nichts lieber getan, als den Wagen zu wenden, und wieder nach Hause zu fahren. Dieses Eingekesseltsein von viertausend Meter hohen Bergwänden löste eine tiefe Beklemmung in ihm aus. Außerdem hatte er Kopfschmerzen, seit er den Lötschbergtunnel hinter sich gelassen hatte. Auch ansonsten fühlte er sich miserabel. Aber das hatte er vorher gewusst. Garantiert wäre das im Sommer anders gewesen. Wahrscheinlich hätten ihn die Berge sogar beeindruckt. Aber jetzt, Anfang November, da die Berge und die Täler weiß vom Schnee waren, konnte er sich unmöglich entspannen. Der Schnee, den die Räumfahrzeuge an den Straßenrändern aufgehäuft hatten, sah aus wie Berge von Zuckerwatte. Martin wurde bei diesem Anblick, der jedes Kinderherz hätte höher schlagen lassen, schlecht. Er hasste Schnee. Es gab Menschen, die Rolltreppen, Kerne im Obst oder Spinnen entsetzlich fanden. Bei ihm war es eben der Schnee. Allein der Anblick ließ seine Atmung flach werden und versetzte ihn in eine leichte Panik. Und jetzt war er hier, wo nichts anderes zu existieren schien. Martin ließ seinen Blick schweifen. Weiß, nichts als weiß. Verdammt, er fühlte sich beschissen bei dem Anblick. Aber Dr. Hörschler hatte gesagt, er solle sich seinen Ängsten stellen. Also hatte dieser Job auch etwas Gutes. Er war nicht nur eine gute Gelegenheit, etwas mehr Geld zu verdienen, sondern in gewisser Art und Weise sogar eine kleine Therapie. Dabei verdrängte er so gut es ging die Tatsache, dass heute Annas dritter Todestag war und er somit allen Grund gehabt hätte, sich nicht auch noch diesem psychologischen Wagnis zu stellen. Aber vielleicht hatte er es gerade deshalb getan. Nichts war schlimmer, als die Trauer. Da ersetzte er lieber den einen Schmerz durch einen anderen. Er musste an den Standardspruch seines Großvaters denken, wenn Martin gejammert hatte, weil er beispielsweise hingefallen war und sich das Knie aufgeschürft hatte:
»Komm her, ich hau dir mit dem Hammer auf den kleinen Finger, dann tut das Bein nicht mehr weh.« Und dann hatte sein Großvater über Martins verängstigten Blick schallend gelacht.
Doch die Trauer um den Menschen, den man über alles geliebt hatte, ließ sich nicht durch eine Fahrt in den hohen Schnee übertünchen. Wenn er ehrlich war, hatte er das auch nicht wirklich erwartet. Tiefe Trauer ließ sich nur kaschieren. Sie schien immer durch wie die Umrisse einer Zeichnung unter Butterbrotpapier. Aber immerhin. Er saß nicht, wie an beiden Jahrestagen davor, an Annas Grab und weinte. Das hatte er gestern erledigt.
Seine Gedanken rissen ab, als er zu nah an den Straßenrand kam und der hintere Teil des alten Audis kurz ins Schlingern geriet. Fortan konzentrierte er sich wieder auf die Straße.
Im Dorf Täsch musste Martin seinen Wagen in einem Parkhaus abstellen und den Rest der Strecke nach Zermatt mit dem Zug zurücklegen. Nur Fahrzeuge mit Sondergenehmigung der Kantonspolizei durften die schmale Straße, die in den Ort führte, benutzen.
Nach etwa fünfzehn Minuten hielt der Zug in Zermatt. Der Bahnhof war nur fünfzig Meter von der Talstation der Gornergratbahn entfernt. Die Zahnradbahn sollte ihn hinauf zum höchsten Hotel der Alpen bringen.
Der Direktor des Hotels, ein Mann namens Walter Zurbriggen, hatte ihm den Weg haarklein erklärt. Auch die abschließende Fahrt mit der Zahnradbahn, selbstverständlich auf Kosten des Hotels. Außerdem hatte Zurbriggen auf Martins Nachfrage angegeben, dass das Hotel über eine eigene Werkstatt
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