Montgomery & Stapleton 04 - Der Experte
steuerte auf den inneren Eingang zu, der auf den Flur im Erdgeschoß führte. »Entschuldigen Sie bitte!« rief sie Marlene Wilson, der afroamerikanischen Rezeptionistin, zu. Marlene mußte den Türsummer drücken, damit Laurie hineinkonnte.
»Warten Sie, Dr. Montgomery!« rief Marlene, als sie Laurie sah. »Sie haben Besuch.«
Ein Paar mittleren Alters, das Laurie noch nie zuvor gesehen hatte, erhob sich von einem der im Wartebereich aufgestellten Vinylsofas. Der Mann war stämmig und hätte eine Rasur nötig gehabt. Er trug eine dicke rotkarierte Wolljacke und hielt eine Jägermütze mit Ohrenschützern in der Hand. Die Frau sah gebrechlich aus. Der Kragen ihres Mantels war mit einer Spitzenborte verziert. Die beiden sahen aus, als kämen sie aus einer Kleinstadt im Mittleren Westen. Sie wirkten eingeschüchtert und erschöpft, als wären sie die ganze Nacht unterwegs gewesen.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte Laurie.
»Wir hoffen es«, antwortete der Mann. »Ich bin Chester Cassidy, und das ist meine Frau Shirley.«
Als Laurie den Nachnamen hörte, zuckte sie zusammen. Wahrscheinlich standen vor ihr die Eltern von Brad Cassidy. Schlagartig und unbeabsichtigt sah sie vor ihrem geistigen Auge das Bild des gefolterten jungen Mannes, dessen Leiche sie am Tag zuvor obduziert hatte. Sie erinnerte sich an die durchstoßenen Augenhöhlen, an die riesigen Nägel, mit denen man dem Jungen die Handflächen durchbohrt hatte, und an die nackten Brust- und Bauchpartien, an denen ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen worden war. Sie mußte sich schütteln.
»Was kann ich für Sie tun?« brachte sie schließlich hervor.
»Man hat uns gesagt, daß Sie die Ärztin sind, die sich um unseren Sohn Brad gekümmert hat«, erwiderte Mr. Cassidy. Ohne es zu merken, fummelte er unentwegt mit seinen großen, schwieligen Händen an der Mütze herum.
Laurie nickte. Der Euphemismus, sie habe sich ›um Brad gekümmert‹, war allerdings kaum angebracht, wenn man bedachte, was sie hatte tun müssen.
»Wir würden uns gern ein paar Minuten mit Ihnen unterhalten«, fuhr Mr. Cassidy fort. »Vorausgesetzt, Sie haben einen Augenblick Zeit für uns.«
»Selbstverständlich«, entgegnete Laurie, obwohl sie auf das Gespräch nicht gerade erpicht war. Es fiel ihr immer wieder schwer, mit Hinterbliebenen zu reden, erst recht, wenn es Eltern waren, die ein Kind verloren hatten. »Ich bin gerade erst gekommen. Geben Sie mir eine Viertelstunde, dann können wir uns unterhalten.«
»In Ordnung«, sagte Mr. Cassidy. Er legte den Arm um die Schulter seiner Frau und führte sie zurück zum Sofa.
Laurie bat Marlene, den Türsummer zu drücken. Besorgt, wie das Gespräch mit dem Ehepaar Cassidy verlaufen würde, nahm sie den Fahrstuhl und fuhr hinauf in den vierten Stock. Sie ging in ihr Büro und zog ihren Mantel aus. Ein Blick auf den Berg unerledigter Fälle, der sich auf ihrem Schreibtisch stapelte, bestärkte sie noch einmal in dem Entschluß, auf keinen Fall nach Budapest zu fliegen.
Die Akte über den Fall Brad Cassidy lag ziemlich weit oben. Sie blätterte mit dem Zeigefinger die Seiten durch und entdeckte, wonach sie suchte: den Identifikationsbogen. Sie zog ihn heraus und sah nach, wer den Toten identifiziert hatte. Der Name lautete Helen Trautman; sie war die Schwester des Verstorbenen.
Zurück im Erdgeschoß, machte sie einen Umweg durch die Telefonzentrale in den ID-Raum. Sie wollte sich noch einen Schluck Kaffee gönnen, bevor sie den Cassidys gegenübertrat. Als sie den Raum betrat, lief sie Jack und Vinnie in die Arme, die sich gerade auf dem Weg in den Sektionssaal befanden. Sie waren wie immer die ersten.
»Können wir uns einen Augenblick unterhalten?« fragte Jack verlegen, als er Laurie erblickte.
»Wenn’s geht, lieber später«, bat Laurie und musterte ihn neugierig. Verlegenheit zu zeigen gehörte entschieden nicht zu Jacks typischen Verhaltensmustern. »Im Wartebereich sitzt ein Ehepaar, das mit mir sprechen möchte. Ich fürchte, die beiden warten schon ziemlich lange.«
»Es dauert nur eine Sekunde«, versprach Jack. »Geh schon mal vor, Vinnie, und bereite alles vor! Ich komme in ein paar Minuten nach.«
»Wieso kann ich nicht noch ein bißchen Zeitung lesen?« schlug Vinnie vor. »Ich habe keine Lust, in der gottverlassenen Grube rumzustehen und Däumchen zu drehen. Deine spontanen Unterhaltungen dauern manchmal eine halbe Stunde.«
»Diesmal nicht!« Jack faßte sich kurz. »Los, hau endlich ab!« Vinnie zog
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