Montgomery u Stapleton 06 - Crisis
positiver Aspekt des Narzissmus. Die Betroffenen verletzen sich in der Regel nicht selbst. Außerdem war seine Depression bisher weit davon entfernt, ihn handlungsunfähig zu machen, und er hatte zwischendurch auch immer wieder normale Phasen – so wie heute Abend zum Beispiel. Er würde es wahrscheinlich nicht zugeben, aber ich glaube, du hast ihn durch deine Anwesenheit aufgemuntert. Es bedeutet, dass dir etwas an ihm liegt, und er respektiert dich.«
»Das ist nett. Aber was nimmt er zum Schlafen? Weißt du das?«
»Nur das Übliche. Ich habe ein wachsames Auge darauf gehalten. Es ist mir peinlich, das zuzugeben, aber ich habe sogar hinter seinem Rücken die Tabletten gezählt.«
»Das braucht dir nicht peinlich zu sein. Du bist nur vorsichtig.«
»Wie auch immer«, sagte Alexis. Sie stand auf. »Ich glaube, ich gehe nach oben, sehe nach den Mädchen und lege mich auch hin. Ich lasse dich ungern hier alleine, aber wenn Leona Rattner morgen aussagt, wird das auch für mich ganz besonders belastend.«
»Kein Problem«, entgegnete Jack. Er stand ebenfalls auf. »Ich bin auch müde, aber ich will noch schnell ein paar der Befragungsprotokolle überfliegen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich etwas übersehen haben könnte, das ich unbedingt im Hinterkopf behalten sollte, wenn ich die Autopsie durchführe.«
»Ich beneide dich beim besten Willen nicht darum, jemanden obduzieren zu müssen, der schon seit fast einem Jahr beerdigt ist. Wie kannst du bloß tagein, tagaus diese Arbeit machen? Ist das nicht eklig?«
»Ich weiß, es hört sich unangenehm an, vielleicht sogar gruselig, aber in Wirklichkeit ist es faszinierend. Ich lerne jeden Tag dazu, und bei mir gibt es keine Problempatienten.«
»Erinnere mich bloß nicht an Problempatienten«, sagte Alexis. »Das ist das beste Beispiel für Selbstzerstörung!«
Jack spürte die Stille des großen Hauses, nachdem Alexis ihm eine gute Nacht gewünscht hatte und die Treppe hinaufgegangen war. Ein paar Minuten dachte er über ihre seltsame Reaktion auf Patience Stanhope nach und darüber, wie bereitwillig sie zugegeben hatte, dass sie froh sei, dass Patience endlich fort war. Sie hatte sogar angedeutet, dass sie glaube, Patience Stanhope sei in irgendeiner Weise dafür verantwortlich, dass Craig ausgezogen war. Jack schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Stattdessen trank er sein Bier aus und ging hinunter in sein Zimmer, um die Prozessakte und sein Handy zu holen. Damit machte er sich auf den Rückweg ins Arbeitszimmer, in dem er versehentlich die Nacht verbracht hatte. Der Raum verströmte eine behagliche, vertraute Atmosphäre.
Nachdem er sich im gleichen Lesesessel niedergelassen hatte, wie am Abend zuvor, klappte Jack sein Handy auf. Die Aussicht, Laurie anzurufen, weckte in ihm zwiespältige Gefühle. Er sehnte sich danach, ihre Stimme zu hören, aber er war nicht gerade darauf erpicht, sich mit ihrem unvermeidlichen Ärger auseinanderzusetzen, wenn er ihr von der möglichen Exhumierung und der anschließenden Autopsie erzählte. Es war schon Dienstagabend, was bedeutete, dass bis Freitag nur noch zwei volle Tage vor ihm lagen. Das zweite Problem war, dass Jack tagsüber Calvin angerufen hatte, um ihm zu sagen, dass er am Mittwoch nicht zur Arbeit kommen und ihn über weitere Entwicklungen auf dem Laufenden halten würde. Womöglich hatte Calvin Laurie gegenüber etwas davon erwähnt, und sie war verschnupft, weil sie es aus zweiter Hand erfahren musste.
Er rutschte tiefer in den Sessel hinein, um es sich so bequem wie möglich zu machen. Dabei glitt sein Blick zu dem Regal an der gegenüberliegenden Wand hinüber, wo er an einer großen, schwarzen, altmodischen Arzttasche hängen blieb, die neben einem tragbaren EKG-Gerät stand.
»Na endlich, der vielbeschäftigte Reisende«, sagte Laurie fröhlich. »Ich hatte gehofft, dass du es wärst.«
Sofort entschuldigte Jack sich dafür, dass er so spät anrief, und erklärte, dass er warten wollte, bis eine Entscheidung gefallen sei.
»Was für eine Entscheidung?«
Jack atmete tief ein. »Eine Entscheidung darüber, ob die Patientin, deren Tod der Auslöser für Craigs Verfahren war, obduziert werden soll.«
»Obduziert?«, fragte Laurie bestürzt. »Jack, es ist Dienstagabend. Am Freitag um halb zwei wollen wir heiraten. Ich brauche dir nicht zu sagen, dass bis dahin nicht mehr viel Zeit bleibt.«
»Ich weiß, dass es etwas knapp wird. Ich denke daran. Mach dir keine
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