Monuments Men
in die Mitte gestellt, und 32 Straßen führten zu ihm wie die Speichen eines Rades. Wie in seinem Traum entwickelte sich rasch eine Stadt um sein Schloss herum.
Da er die neue Stadt zu einem regionalen Machtzentrum auszubauen hoffte, lud Karl Wilhelm jedermann ein, sich hier niederzulassen, ungeachtet seiner rassischen Zugehörigkeit oder seiner Religion. Dies war ein seltener Luxus, insbesondere für Juden, die meist nur in rein jüdischen Vierteln wohnen durften. Um 1718 wurde in Karlsruhe eine jüdische Gemeinde gegründet. Im Jahr 1725 zog ein jüdischer Kaufmann namens Seligmann aus Ettlingen hierher, einer Nachbarstadt, in der seine Familie seit 1600 gelebt hatte. Seligmanns Geschäfte liefen gut in Karlsruhe; erst 1752, als sich die Stadt bereits als bedeutende Regionalmacht verstand, wurden gegen die Juden gerichtete Gesetze erlassen. Um 1800, als die deutsche Bevölkerung per Gesetz verpflichtet wurde, einen Nachnamen zu führen, entschlossen sich Seligmanns Nachkommen, sich den Familiennamen Ettlinger zuzulegen, nach der Stadt ihrer Vorfahren.
Die bedeutendste Straße in Karlsruhe war die Kaiserstraße, und in dieser Straße eröffnete die Familie Ettlinger 1850 ein Damenbekleidungsgeschäft. Juden durften kein Ackerland besitzen. Berufszweige wie Medizin, das Rechtswesen oder die staatliche Verwaltung waren ihnen grundsätzlich zugänglich, wenngleich sie dabei offen benachteiligt wurden, während die Handwerkerzünfte wie etwa die Klempner oder die Zimmerer sie nicht aufnahmen. Daher verlegten sich viele jüdische Familien auf den Einzelhandel. Das Geschäft der Gebrüder Ettlinger war nur zwei Häuserblocks vom Schloss entfernt, und Ende der 1890er-Jahre wurde es dank der Patronage durch eine Nachfahrin Karl Wilhelms, der Großherzogin Hilda von Baden, der Ehefrau Friedrichs II. von Baden, zu einem der elegantesten Geschäfte in der Region. Anfang des 20. Jahrhunderts besaß der Laden vier Stockwerke mit Verkaufsflächen und hatte 40 Angestellte. Der Großherzog und seine Frau mussten 1918 abdanken, doch selbst der Verlust ihrer Förderin tat dem geschäftlichen Erfolg der Familie Ettlinger keinen Abbruch.
Im Jahr 1925 heiratete Max Ettlinger Suse Oppenheimer, deren Vater Textilgroßhändler im nahe gelegenen Bruchsal war. Sein wichtigster Handelsartikel waren Uniformstoffe für Staatsbedienstete wie etwa Polizisten und Zollbeamte. Die jüdische Familie Oppenheimer, die ihre Wurzeln in der Stadt bis auf das Jahr 1450 zurückführen konnte, war bekannt für ihre Rechtschaffenheit, ihre Umgänglichkeit und ihre Menschenfreundlichkeit. Suses Mutter hatte sich unter anderem als Vorsitzende des örtlichen Roten Kreuzes betätigt. Als Max’ und Suses ältester Sohn Heinz Ludwig Chaim Ettlinger, genannt Harry, geboren wurde, war die Familie daher nicht nur wirtschaftlich wohlsituiert, sondern genoss im Raum Karlsruhe auch einen guten Ruf: Sie galten als ehrbare Geschäftsleute.
Kinder leben in einer geschlossenen Welt, und der kleine Harry nahm an, dass das Leben, so wie er es kannte, für immer so weitergehen würde. Er hatte keine nichtjüdischen Freunde und auch seine Eltern nicht, daher erschien ihm dies nicht ungewöhnlich. Er begegnete Nichtjuden in der Schule oder in den Parks, und er kam auch gut mit ihnen aus, aber dennoch schlummerte in ihm verborgen das Wissen, dass er aus irgendeinem Grund ein Außenseiter war. Er wusste nichts davon, dass in der Welt eine schwere Wirtschaftskrise heraufzog und dass schwierige Zeiten Schuldzuweisungen und Vorwürfe mit sich bringen würden. Harrys Eltern waren nicht nur wegen der wirtschaftlichen Entwicklung in Sorge, sondern auch wegen der Zunahme nationalistischer und antisemitischer Stimmungen. Harry indes bemerkte nur, dass die Trennlinie zwischen ihm und der größeren Welt in Karlsruhe allmählich deutlicher zu erkennen und immer schwerer zu überschreiten war.
Im Jahr 1933 schließlich, als er sieben Jahre alt war, durfte Harry nicht mehr an Veranstaltungen des örtlichen Sportvereins teilnehmen. Im Sommer 1935 verließ seine Tante Karlsruhe und übersiedelte in die Schweiz. Als Harry einige Monate später in die fünfte Jahrgangsstufe kam, gab es in der Klasse, die aus 45 Schülern bestand, außer ihm nur noch einen einzigen weiteren jüdischen Jungen. Sein Vater hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen, war bei Metz in Frankreich durch einen Granatsplitter verletzt worden und hatte für seine Tapferkeit einen Orden erhalten; daher wurden auf Harry die
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