Moorehawke 02 - Geisterpfade
Waschutensilien aus, um Schweiß und Dreck der letzten vier Tage abzuschrubben. Es war jedes Mal dasselbe, wenn Christopher Sólmundr aufsuchte – nach seiner Rückkehr sah er weder ihr noch Razi in die Augen, und Wynter vermutete, dass er ihnen auswich, weil er die Missbilligung fürchtete, die er in Razis Miene entdecken könnte.
Auf der anderen Seite der Lichtung setzte sich nun Hallvor neben Sólmundr. Leise fragte sie ihn etwas, doch Sól wandte sich ab, ohne zu antworten. Er machte die Augen nicht auf, und nach kurzem Warten stand die Heilerin wieder auf und ließ ihn allein, mit dem Rücken zu seinen Leuten, das Gesicht schmerzverzerrt.
Wynter blickte von Sólmundr, der ganz allein mit seinem traurigen Hund dort saß, zu Christopher, der sich wortlos das Hemd über den Kopf zog, und schließlich zu Razi. Er war dabei, sein Pferd zu versorgen, jede seiner Bewegungen war hölzern vor Verärgerung, das dunkle Gesicht verkniffen. Alles an ihm brüllte Bleib mir vom Leib , und Wynter zögerte einen Moment lang verunsichert. Dann aber holte sie tief Luft und ging zu ihm.
Ohne ein Lächeln blickte er auf und fuhr dann mit seiner Tätigkeit fort.
»Razi«, begann sie, »ich möchte, dass du Sólmundr untersuchst.«
Unsanft riss er die Satteldecke von seiner Stute und warf sie über einen Strauch. »Er hat seine eigene Heilerin.«
»Ich glaube aber, dass er dich braucht.«
Anstatt etwas zu entgegnen, hockte er sich vor das aufgestapelte Zaumzeug und entknotete die Befestigung der Satteltaschen. Wynter duckte sich unter den Hals des Pferdes und kam näher.
»Er hat große Schmerzen. Das kann dir doch wohl nicht entgangen sein?« Da Razi wieder nicht antwortete, starrte Wynter ihm durchdringend auf den Scheitel, um ihn dazu zu bewegen, sie anzusehen. »Ich kann nicht glauben«, sagte sie, »dass du deine Rachegelüste an einem verwundeten Menschen auslassen willst.«
Razi erstarrte. Langsam drehte er den Kopf, und Wynters Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. Im Laufe der vergangenen vier Tage hatte Razi still vor sich hin gebrütet oder sich mit Befehlen und Planungen beschäftigt – unnahbar, mürrisch, verschlossen. Nun aber funkelte er sie mit unverhohlener Wut an, und Wynter schauderte unwillkürlich zurück.
»Willst du damit etwa andeuten, dass sich Sólmundr nicht an ihrer Ermordung beteiligt hätte?«, schäumte er. »Willst du behaupten, dass er sie nicht in den Tod geschickt hat?«
»Nein, Razi«, flüsterte sie. »Das will ich nicht.«
Er machte sich erneut an seiner Ausrüstung zu schaffen. Ungeschickt nestelte er an den Schnüren, seine sonst so flinken Hände waren nun unbeholfen vor Zorn.
Sie kauerte sich neben ihn. »Razi«, wagte sie einen neuen Versuch. »Ich habe kein Verlangen, die Merroner zu verteidigen. Was sie getan haben … ist mir unbegreiflich. Aber du bist ein guter Mensch. Du bist Arzt . Sólmundr braucht dich, und eine solche Vernachlässigung ist unter deiner Würde.«
Höhnisch verzog er den Mund. »Hohe Protektorin, du hast keine Vorstellung davon, was unter meiner Würde ist. Ich glaube allmählich, dass überhaupt nichts unter meiner Würde ist. Wäre ich ein anständiger Mensch, wäre ich überhaupt ein Mensch, würde ich … aber ich bin kein Mensch, oder? Ich bin ein hohler Apparat! Ich bin eine Aufziehpuppe des Reichs, und daher unternehme ich gar nichts, wenn ich handeln sollte, und gestatte all jenen, die …« Mit einem Mal klappte Razi seine Satteltaschen auf und begann eine fieberhafte Suche nach seinen Striegeln. Er schleuderte den Inhalt der Taschen hierhin und dorthin, schien die Sachen kaum zu sehen oder zu spüren, und zu ihrer größten Beunruhigung erkannte Wynter, dass seine Selbstbeherrschung womöglich endlich zerbröckelte. Noch näher beugte sie sich zu ihm und legte ihm zaghaft die Hand auf den Arm. Razis kraftvolle Muskeln zuckten unter ihrer Berührung, als könnte er sich nur mit Mühe davon abhalten, sie grob abzuschütteln, dann jedoch erstarrte er zu Stein und starrte die Striegel in seiner Hand an, ohne sie wahrzunehmen.
Als Hohe Protektorin wusste Wynter, dass es viele Dinge
gab, die sie jetzt zu Fürst Razi sagen sollte. Sie sollte ihn ermahnen, dass sie diese Leute brauchten und er nicht zulassen durfte, dass sein persönlicher Zorn zwischen ihm und jenen stand, die ihm helfen würden, seine Pflicht gegenüber dem Reich seines Vaters zu erfüllen. Sie sollte ihn auffordern, seine Maske aufzusetzen, seinen
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