MoR 01 - Die Macht und die Liebe
schmalen Wandtischchen standen mehrere altersschwache Holzschreine, die aussahen wie Tempelmodelle. Es handelte sich um die letzten Überreste der Einrichtung von Sullas Elternhaus. Sein Vater hatte die Kästchen nicht gegen Wein tauschen können, weil niemand sie haben wollte, und so waren sie Sullas ganzes Erbe geworden. Es waren fünf würfelförmige Schreine, von denen jeder etwa zwei Fuß lang, breit und hoch war. Auf der Vorderseite der Schreine befanden sich Säulen, dazwischen stand ein bemaltes, hölzernes Türchen. Die Giebel waren an der Spitze und an den Seiten mit geschnitzten Tempelfiguren verziert, auf dem einfachen Gesims unterhalb des Giebels war auf jedem Schrein ein Männername aus dem Patriziergeschlecht der Cornelier eingraviert. Der Name des ersten Schreins gehörte dem Urvater der sieben Zweige des Geschlechts. Der zweite lautete Publius Cornelius Rufinus, der vor mehr als zweihundert Jahren Konsul und Diktator gewesen war. Auf ihn folgte sein Sohn, der während der Kriege gegen die Samniten zweimal Konsul und einmal Diktator gewesen, dann aber aus dem Senat verstoßen worden war, weil er Silbergeschirr gehortet hatte. Sodann kam der erste Rufinus, der den Namen Sulla getragen hatte. Er war ein Priester des Jupiter gewesen. Der letzte Name schließlich, Publius Cornelius Sulla Rufinus, hatte dem Sohn des Priesters gehört, der Prätor gewesen und durch die Gründung der Spiele zu Ehren Apollos berühmt geworden war.
Sulla öffnete den Schrein des ersten Sulla. Er ging sehr sorgfältig zu Werk, denn das Holz war brüchig. Eines Tages wollte er die Ahnenschreine restaurieren lassen und sie in seinem Haus in einem eindrucksvollen Atrium aufstellen. Im Augenblick jedoch schien der Schrein der richtige Ort, um die beiden Fläschchen und das Kästchen mit dem Pulver zu verstecken - der Schrein des Sulla, der zu seiner Zeit der heiligste Mann in Rom, der Diener des Jupiter Optimus Maximus gewesen war.
Im Innern des Schreins befand sich eine Wachsmaske mit einer Perücke. Die Maske war lebensgroß und wirkte durch ihre sorgfältige Bemalung außerordentlich lebensecht. Stechende Augen sahen Sulla an, blau im Unterschied zu seinen eigenen blaßgrauen Augen. Die Haut des Ahnen war hell, aber nicht so hell wie die Sullas, das dichte und lockige Haar war karottenrot, während Sullas Haar goldrot glänzte. Die Maske war auf einem hölzernen Block befestigt und zuletzt bei der Beerdigung seines Vaters herausgenommen worden. Das Geld für die Beerdigung hatte Sulla durch eine Reihe demütigender Begegnungen mit einem ihm verhaßten Mann verdienen müssen.
Liebevoll schloß Sulla die Tür, dann tasteten seine Finger suchend über die Treppe, die zu dem Holztürchen hinaufführte. Die Stufen waren glatt und nichts deutete darauf hin, daß in ihnen eine kleine Schublade verborgen war. Doch wie bei einem echten Tempel war das Podium des Ahnentempelchens hohl. Sullas Finger fanden die richtige Stelle und zogen die Schublade aus der Treppe. Die Schublade war nicht als Geheimfach gedacht, sondern in ihr wurden das Testament des Verstorbenen sowie eine detaillierte Beschreibung seiner körperlichen Erscheinung, seiner Größe, seines Ganges, seiner Gewohnheiten und seiner sonstigen Körpermerkmale aufbewahrt. Wann immer ein Cornelius Sulla starb, wurde ein Schauspieler engagiert, der die Maske aufsetzte und den toten Vorfahr so täuschend ähnlich spielte, daß man glauben konnte, er sei zurückgekehrt, um einen weiteren Sproß seines Geschlechtes aus dieser Welt zu geleiten.
Neben den Dokumenten über den Priester Publius Cornelius Sulla Rufinus war in der Schublade genügend Platz für die beiden Fläschchen und das Kästchen mit dem Pulver. Sulla legte alles hinein, schob die Schublade wieder zurück und vergewisserte sich, daß sie ganz geschlossen war. Sein Geheimnis war bei Rufinus sicher aufgehoben.
Erleichtert richtete er sich auf, öffnete die Fensterläden und schob den Riegel an der Tür zurück. Er nahm den Flitterkram vom Tisch und griff mit einem boshaften Grinsen nach einer der Schriftrollen, die gleichfalls dort lagen.
Dann ging er ins Eßzimmer, in dem neben Clitumna und Nikopolis Lucius Gavius Stichus lag, natürlich auf dem Platz des Hausherrn. Auch Clitumna und Nikopolis lagen auf einem Sofa, statt auf Stühlen zu sitzen, wie es sich für Frauen ziemte. Die beiden Frauen gaben nicht viel auf Traditionen.
»Da seid ihr ja, Mädchen«, sagte Sulla. Zwei anbetende Augenpaare folgten ihm durch
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