MoR 01 - Die Macht und die Liebe
verstehen.«
»Ich zweifle nicht an deinem Instinkt«, sagte Rutilius Rufus. »Du bist ein bemerkenswert kluger Mensch, Gaius Marius. Oberflächlich betrachtet, ist ein Klient nicht viel wert. Er ist viel mehr auf seinen Patron angewiesen als umgekehrt. Mit Ausnahme von Wahlen vielleicht, oder wenn eine Katastrophe droht. Vielleicht kann der Klient seinem Patron nur dadurch helfen, daß er sich weigert, jemanden gegen die Interessen seines Patrons zu unterstützen. Aber Instinkte sind wichtig, darin stimme ich dir zu. Sie machen auf verborgene Tatsachen aufmerksam, noch lange ehe der nüchterne Verstand sie entdeckt. Vielleicht hast du recht mit deiner Grundströmung. Und vielleicht ist es der einzige Weg aus der Gefahr, daß die großen römischen Familien die italischen Bundesgenossen als Klienten gewinnen. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich weiß es auch nicht«, sagte Marius. »Aber ich werbe Klienten an.«
»Aber zurück zum Ausgangspunkt«, lächelte Rutilius Rufus. »Wir wollten über meinen Neffen Drusus sprechen, wenn ich mich richtig erinnere.«
Marius sprang auf. »Stimmt! Komm mit, Publius Rutilius, vielleicht sind wir noch nicht zu spät dran. Ich will dir ein Beispiel für die neue Einstellung der großen Familien gegenüber den italischen Bundesgenossen zeigen!«
Rutilius erhob sich ebenfalls. »Ich komme ja schon! Aber wohin?«
»Zum Forum natürlich!« Marius ging bereits den Abhang des Tempelbezirks zur Straße hinunter. »Dort findet gerade ein Prozeß statt, und wenn wir Glück haben, ist er noch nicht vorbei.«
»Es überrascht mich, daß du davon weißt«, sagte Rutilius Rufus trocken. »Du kümmerst dich doch sonst nicht um die Vorgänge auf dem Forum.«
»Und mich überrascht, daß du nicht seit heute morgen auf dem Forum bist«, entgegnete Marius. »Schließlich ist es der erste Auftritt deines Neffen Drusus als Advokat.«
»Nein! Seinen ersten Auftritt hatte er schon vor Monaten. Damals vertrat er die Anklage gegen den obersten Finanztribunen.«
»Ach so.« Marius zuckte die Schultern und beschleunigte den Schritt. »Dann kann ich dir natürlich kein Versäumnis vorwerfen. Aber auf jeden Fall solltest du die Karriere des jungen Drusus genau beobachten, Publius Rutilius. Dann würdest du nämlich auch meine Ausführungen über die italischen Bundesgenossen besser verstehen.«
»Bitte kläre mich auf.« Rutilius Rufus’ Atem ging schwer. Marius vergaß immer, daß sein Freund kürzere Beine hatte als er.
»Ich hörte heute auf dem Forum jemanden in schönstem Latein und mit einer schönen Stimme reden. Ein neuer Redner, dachte ich und blieb stehen. Es war dein junger Neffe Drusus!«
»In welchem Fall vertritt er diesmal die Anklage?«
»Das ist ja gerade das Interessante: Er tritt diesmal nicht als Ankläger auf, sondern als Verteidiger. Noch dazu vor dem Fremdenprätor! Es ist ein wichtiger Fall, denn es werden sogar Geschworene berufen.«
»Mord an einem römischen Bürger?«
»Nein. Bankrott.«
»Das ist ungewöhnlich«, schnaufte Rutilius Rufus.
»Wie ich die Sache verstanden habe, handelt es sich um eine Art Präzedenzfall«, fuhr Marius fort, ohne seine Schritte zu verlangsamen. »Kläger ist der Geldhändler Gaius Oppius, Beklagter ein marsischer Geschäftsmann namens Lucius Fraucus aus Marruvium. Wie mir ein Informant erzählt hat, hatte Oppius die Außenstände auf seinen italischen Konten satt. Deshalb beschloß er, einen Italiker hier in Rom vor Gericht zu bringen, um ein Exempel zu statuieren. Er will den Italikern solche Angst einjagen, daß sie ihre - vermutlich exorbitanten - Schuldzinsen pünktlich zahlen.«
»Die Zinsen«, keuchte Rutilius Rufus, »liegen bei zehn Prozent.«
»Nur wenn du Römer bist«, erwiderte Marius.
»Wenn du so weiterredest, wirst du wie die Gracchen enden, nämlich mausetot.«
»Unsinn!«
Rutilius Rufus verlangsamte seinen Schritt. »Ich möchte lieber nach Hause. Ich weiß wirklich nicht, warum wir zum Forum gehen.«
»Weil dein Neffe immer noch spricht. Als ich das Forum verließ, hatte er noch gute zweieinhalb Stunden für sein Plädoyer«, antwortete Marius. »Der Prozeß ist sozusagen ein Experiment. Hat irgendwas mit den neuen Prozeßregeln zu tun, die sie einführen wollen. Zuerst kamen die Zeugen dran, dann erhielt die Anklage zweieinhalb Stunden für die Zusammenfassung, dann die Verteidigung drei Stunden für das Plädoyer. Danach bittet der Fremdenprätor die Geschworenen um ihr Urteil.«
Sie schritten den Clivus
Weitere Kostenlose Bücher