Mord an der Mauer
sich die Besucher von ihren Stühlen. Auf den vielen Baustellen unterbrechen die Arbeiter ihre Tätigkeit, treten an den Rand ihrer Gerüste und schweigen drei Minuten lang. Auch in den Büros herrscht Arbeitsruhe; die Angestellten stehen an den offenen Fenstern und sehen zu, wie der Alltag stillsteht. Die Zugführer der S-Bahnen allerdings sind angewiesen, trotz der angeordneten Verkehrspause auch auf West-Berliner Gebiet weiterzufahren. Schließlich wird dieses Verkehrsmittel von der Reichsbahnverwaltung in Ost-Berlin aus betrieben, untersteht also nicht dem West-Berliner Senat. Jedoch ziehen, als die Kirchenglocken zu schlagen beginnen, Fahrgäste in sieben S-Bahn-Zügen auf West-Berliner Gebiet die Notbremsen. Die in einigen Wagen mitfahrenden DDR-Transportpolizisten greifen nicht ein und nehmen niemanden fest, denn auch die SED hat kein Interesse an einer Konfrontation auf West-Berliner Gebiet ausgerechnet am 13. August. Als am Rathaus Schöneberg die Freiheitsglocke ausklingt, erhebt der Regierende Bürgermeister Willy Brandt seine Stimme für eine kurze Ansprache: »Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! In diesen Minuten gedenken wir alle des bitteren Unrechts, das unserer Stadt Berlin, der deutschen Hauptstadt, zugefügt worden ist. Wir denken an unsere Verwandten und Freunde, an unsere Landsleute, die durch brutale Gewalt von uns getrennt sind. Und wir ehren die Opfer dieser Mauer. Aber dies kann nicht allein ein Tag des Gedenkens, es muss auch ein Tag aufrüttelnder Mahnung sein.« Brandt schließt seine Rede, eine von drei Ansprachen, die er an diesem Tag hält, mit den Worten: »Gemeinsam mit allen Menschen guten Willens leben wir jenem Tag entgegen, von dem unsere Freiheitsglocke kündet.«
Als die drei Minuten Schweigen und Verkehrsruhe zu Ende gehen, beginnen überall in der Stadt zuerst einzelne Fahrer, dann ganze Autopulks kollektiv zu hupen. Die Ampeln schalten auf Normalbetrieb, und unter ohrenbetäubendem Lärm setzen sich die Fahrzeuge in Bewegung. Bald normalisiert sich der Verkehr in der West-Berliner Innenstadt, in den Büros und Fabriken nehmen die Angestellten ihre Arbeit wieder auf, ebenso auf den Baustellen. Überall dort, wo man den Todesstreifen aus groben Betonsteinen und Stacheldrahtzäunen nicht sieht, geht das Leben in der eingeschlossenen Teilstadt fast so weiter, als gäbe es die Mauer gar nicht.
Entlang der innerstädtischen Grenze selbst sieht es freilich den ganzen Tag über anders aus. Auf Ost-Berliner Seite haben sich an Dutzenden Stellen, von denen aus man trotz verrammelter Straßen und hoher Sichtblenden wenigstens einen Blick über die Mauer werfen kann, mutige Menschen versammelt. An den von der Mauer unterbrochenen Querstraßen der Bernauer Straße und der Zimmerstraße bilden sich kleine Gruppen, ebenso an den meisten Grenzübergängen. Insgesamt sind es mehrere Hundert, wahrscheinlich sogar mehrere Tausend DDR-Bürger, die an diesem warmen Sommertag ihrem Protest gegen die Teilung der Stadt mit einem kurzen Aufenthalt in der Nähe des Sperrgebiets Ausdruck verleihen. Doch können sie nichts weiter tun, als schweigend zu verharren. Nicht einmal zu winken ist ihnen möglich, denn die Grenztruppen der SED haben an vielen Stellen zusätzliche Uniformierte aufmarschieren lassen. Sie sollen DDR-Bürger festnehmen, die »unerlaubte Zeichen« über die Mauer hinweg in den Westen schicken.
Und ein Zeichen würden viele Ost-Berliner gern senden, können sie sich doch auch nach einem Jahr nicht mit der Situation abfinden. Viele sind durch den Mauerbau nicht nur von Verwandten und Freunden getrennt, sondern haben auch ihre Arbeit oder ihren Ausbildungsplatz im Westen verloren und sind gezwungen, sich neu zurechtzufinden in ihrem stark beschnittenen Leben. Nicht selten haben sie Arbeitsstellen erhalten, die unter ihrer Qualifikation liegen, von der schlechteren Bezahlung ganz zu schweigen. Manche suchen weiter verzweifelt nach Fluchtmöglichkeiten, weil sie im SED-Staat nicht leben wollen; andere haben entschieden, sich auf das Regime einzulassen und sich anzupassen. Angesichts des Unruhepotenzials hat auch das Ministerium für Staatssicherheit zusätzliche Mitarbeiter aufgeboten, um am Jahrestag des Mauerbaus »Grenzprovokationen« zu verhindern, wie es im Maßnahmenplan der zuständigen Hauptabteilung I heißt. Die massive Präsenz wirkt abschreckend: Insgesamt registrieren Stasi und Volkspolizei am 13. August nur elf Fälle von »staatsgefährdender Hetze«, darunter
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