Mord an der Mauer
eine sechs Meter lange »Hetzlosung« an der Mauer zu einem S-Bahn-Gelände im Bezirk Lichtenberg, die sich »gegen den Vorsitzenden des Staatsrates« Walter Ulbricht richtet, und vier Flugblätter. Ein 29-Jähriger wird festgenommen, der einen Volkspolizisten »mit staatsverleumderischen Äußerungen beschimpft« hat. Angesichts der demonstrativen Anwesenheit zahlreicher DDR-Uniformierter bleibt den Menschen auf östlicher Seite der Mauer nur, hilflos den wütenden Rufen zuzuhören, die aus dem freien Teil Berlins herüberschallen.
Den »antifaschistischen Schutzwall« entlang haben sich dort zahlreiche DDR-Gegner versammelt. Insgesamt 85 Fälle »gegnerischer Tätigkeit« auf West-Berliner Seite vermerkt die Volkspolizei in ihrem minutiösen Bericht. Dazu gehören Kranzniederlegungen westlicher Politiker an Mahnmalen für Maueropfer, kleine und größere Demonstrationen, Sprechchöre gegen Ulbricht und laute Aufforderungen an die DDR-Posten, zu desertieren. Einzelne Steine werden über die Mauer geworfen, mindestens zweimal fallen Schüsse aus Luftgewehren. Diese und andere gewaltsame Proteste aber unterbindet die West-Berliner Polizei rasch. Die Beamten sollen, so der klare Auftrag von Innensenator Heinrich Albertz, Eskalationen unbedingt vermeiden.
Zu den meist jungen Männern, die ihren Abscheu über das SED-Regime und seine mörderischen Grenzanlagen herausschreien, gehört auch der 20-jährige Dieter Beilig aus Kreuzberg. Schon seit fast einem Jahr protestiert der Hilfsarbeiter der Bundesdruckerei mit immer neuen Aktionen gegen die Teilung der Stadt. So hat er im Oktober 1961 an der Spree ein Mahnkreuz für einen bei der Flucht ertrunkenen DDR-Bürger aufgestellt. Im Mai und Juni 1962 baut er dann insgesamt sieben Bomben mit selbst gemischtem Schwarzpulver, die er an der Niederkirchnerstraße gegenüber dem Haus der Ministerien der DDR zündet. Allerdings explodieren die Ladungen nicht, sondern brennen lediglich mit einer Stichflamme und viel Rauch ab. Beim letzten derartigen Anschlag überraschen West-Berliner Polizisten Beilig; er wird festgenommen, verwarnt und unter Meldeauflagen wieder freigelassen.
Für den ersten Jahrestag des Mauerbaus hat sich Beilig eine spektakuläre, aber friedliche Aktion vorgenommen: Bei einem Schreiner hat er Latten gekauft, die er zu einem drei Meter langen Kreuz zusammenfügt, das er dunkel beizt und in Weiß mit den Worten »Wir klagen an« beschriftet. Am Jahrestag des Mauerbaus läuft er mit diesem Kreuz vom Brandenburger Tor aus entlang der Mauer Richtung Kreuzberg; zeitweise führt er eine größere Demonstration von DDR-Gegnern an. An der Kreuzung Niederkirchner-/Wilhelmstraße wagt er sich über die offizielle Sektorengrenze und geht direkt bis an die grob gefügte Mauer, die gut zwei Meter zurückgesetzt auf Ost-Berliner Seite steht. Beilig stemmt das schwarze Kreuz über den Stacheldraht empor, unterstützt von zwei anderen jungen Männern. Die DDR-Grenzposten fühlen sich provoziert und fordern einen Wasserwerfer an, der die drei Mauergegner vom DDR-Gebiet vertreiben soll. Fotografen halten die Konfrontation der kleinen Protestgruppe und des panzerartigen Wasserwerfers in eindrucksvollen Bildern fest. Wenig später schreiten West-Berliner Polizisten ein, lösen den Demonstrationszug auf und nehmen Beilig sein Holzkreuz ab. Weisungsgemäß wollen sie so die Situation beruhigen.
Über den Sender Freies Berlin (SFB) und den Rias (Rundfunk im amerikanischen Sektor) erreichen Berichte über diese Aktion und andere Proteste gegen die Mauer im Westteil den Ostsektor Berlins – da mögen die SED-Zeitung Neues Deutschland und die anderen parteitreuen Blätter noch so laut jubeln über die angebliche »Rettung des Friedens« durch die DDR ein Jahr zuvor.
Der Maurergeselle Peter Fechter und der Betonbauer Helmut Kulbeik jedenfalls sind alles andere als stolz auf den Mauerbau. Und so haben sie sich vorgenommen, den »Arbeiter-und-Bauernstaat« auf jeden Fall zu verlassen. Beide sind fast gleichaltrig, achtzehneinhalb Jahre, und arbeiten nach der Lehre seit Januar 1962 auf der Baustelle des früheren Kaiser-Wilhelm-Palais Unter den Linden, das als Institutsgebäude für die Humboldt-Universität wiederaufgebaut wird. Schon seit einigen Wochen spielen Kulbeik und Fechter mit dem Gedanken, gemeinsam die Flucht aus Ost- nach West-Berlin zu wagen. Sie wissen, dass an der Grenze auf Fluchtwillige geschossen wird, sie dabei getroffen und getötet werden können. Doch seit
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