Mord an der Mauer
Mitte Juni 1962 Peter Fechters Antrag abgelehnt worden ist, zu seiner in West-Berlin lebenden älteren Schwester Lieselotte reisen zu dürfen, die er mit seinen Eltern vor dem Mauerbau regelmäßig besucht hat, ist er entschlossen, die SED-Diktatur zu verlassen. Die Ablehnung hat ihn umso mehr getroffen, als sein Produktionsleiter der Kaderabteilung gegenüber seine Leistung und Einstellung ausdrücklich gelobt hatte.
Seine Familie informiert er über sein Vorhaben nicht, im Gegenteil: An Lieselotte, die fast zehn Jahre älter ist, hat er im Mai 1962 noch geschrieben, er habe ein Mädchen kennengelernt, mit dem er sich verloben wolle. Auch Helmut Kulbeik spricht weder mit Vater noch Mutter, selbst seine ältere Schwester Renate weiht er nicht ein.
Beide Freunde stammen aus Arbeiterfamilien. Peter Fechters Vater Heinrich, ein Maschinenbauer, steht der DDR laut Stasi »ablehnend« gegenüber, während seine Mutter Margarete, die ein staatliches Uhrengeschäft leitet, wenigstens »nach außen hin fortschrittlich auftritt«. Die Fechters leben in der Weißenseer Behaimstraße 11 in einer Wohnung mit zweieinhalb Zimmern, der Eingang des graubraunen vierstöckigen Hauses führt auf den Hinterhof. Die beengte Wohnung teilen sich die Eltern Fechter mit Peter, ihrer jüngsten Tochter Ruth und der siebenjährigen Enkelin Jutta, der Tochter von Lieselotte, die 1956 nach West-Berlin geflohen ist und Jutta zurückgelassen hat. Margarete Fechter adoptierte ihr Enkelkind; zeitweise teilt sich Jutta ein Zimmer mit Peter, der sich um sie kümmert. Als Onkel verwöhnt und tröstet er sie, wenn die Großeltern mal zu streng sind. Peter versteht sich auch gut mit seiner älteren Schwester Gisela, die 1960 nach ihrer Hochzeit ausgezogen ist und inzwischen einen kleinen Sohn hat. Manchmal kommt Peter spontan vorbei, um nach seinem Neffen zu sehen. Die Familie ist ihm wichtig.
Bei Familienfeiern geht es ausgelassen und fröhlich zu. Geburtstage werden mit der Verwandtschaft beinahe wie Hochzeiten gefeiert, mit Akkordeon und Gesang, auch Peter singt mit. Seine Familie erlebt ihn aufgeschlossen und liebevoll, er bereitet ihnen keine Sorgen. Peter wirkt nach außen ruhig, fast schüchtern. Im Wohnblock hat er kaum Kontakt zu Gleichaltrigen. Manchmal zieht er mit seinem Cousin Jürgen Remmert los, der ein paar Jahre älter ist. Vor dem Mauerbau sind sie auch nach West-Berlin gefahren, vor allem um ins Kino zu gehen. Doch wenn Remmert und seine Freunde mit dem Kofferradio auf der Straße Westmusik hören, ist Peter selten dabei. Dafür ist er nicht der Typ.
Auf der Baustelle sind die Kollegen zufrieden mit seiner Arbeit. Peter ist fleißig und nie schludrig. Er wünscht sich, irgendwann ein Studium zum Bauingenieur anzuschließen – am liebsten möchte er Kirchen und andere historische Bauten rekonstruieren; manchmal träumt er sogar von Amerika.
Mit Helmut Kulbeik versteht er sich gut. Der Kollege wohnt in der Schreinerstraße 19 in Friedrichshain, ebenfalls noch bei den Eltern. Vater Fritz Kulbeik arbeitet als Werkzeugmacher, Mutter Frieda ist Hausfrau. Peter und Helmut verbringen die Freizeit miteinander, während der Kontakt zu den anderen Kollegen eher lose bleibt. An den Wochenenden gehen sie tanzen oder fahren Kanu. Der Eindruck einer unbeschwerten Jugend indes trügt. Auch Helmut Kulbeik fühlt sich drangsaliert im SED-Staat. Wie Peter ist er seit dem Mauerbau von Verwandten in West-Berlin getrennt, seine Großmutter und eine Tante leben dort. Zudem hat die Familie, seit er als 14-Jähriger konfirmiert worden ist, gelegentlich Hausbesuch von Parteifunktionären bekommen. Sie wollen Helmut überreden, doch noch an der staatlichen Jugendweihe teilzunehmen. Der aber hat keine Neigung, sich ständig betrieblich, gesellschaftlich und sogar in seiner Freizeit einzugliedern und anzupassen, er will einfach nur frei sein. Und auf keinen Fall zur Armee. So wächst trotz des Risikos die Bereitschaft, einen Fluchtversuch zu wagen.
Im Sommer 1962 begeben sich Peter Fechter und Helmut Kulbeik gelegentlich in die Nähe des innerstädtischen Sperrgebiets, um eine geeignete Stelle für ihr Vorhaben aufzuspüren. Doch weder im Norden Berlins, in Pankow, noch im Süden, in Treptow, werden die beiden fündig; auch nicht rund um die Bornholmer Straße – obwohl hier in den vergangenen Monaten schon Dutzenden DDR-Bürgern die Flucht gelungen ist. Vielleicht aber auch genau deshalb, denn wo immer die Grenztruppen eine erfolgreiche
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