Mord an der Mauer
vor, die langsam die Schützenstraße entlanggehen, denn in der direkten Nähe gibt es zurzeit keine Baustelle.
Wenige Minuten später sieht auch Feldwebel Hans Schönert vom Nachbarposten 3 auf der Charlottenstraße die beiden Männer. Inzwischen stehen sie vor einem Gemüseladen an der Schützenstraße und schauen in Richtung Sperrgebiet. Schönert greift zum Feldtelefon seines Kontrollpunktes und informiert seinen Gruppenführer, Feldwebel Willi Gelhar. Laut Dienstvorschrift muss jetzt eine Kontrollstreife losgehen, um die beiden Verdächtigen zu überprüfen. Vorgesehen ist, dass ihre Personalien festgestellt werden und sie für den Fall, dass sie keine überzeugende Erklärung für ihre Anwesenheit in Grenznähe haben, entweder zu verweisen oder bei Verdacht auf versuchte »Republikflucht« festzunehmen sind. Gelhar jedoch verzichtet auf die Kontrolle, denn unterdessen haben sich die Bauarbeiter im Laden eine Brause gekauft und trinken sie in aller Ruhe aus. Offenbar falscher Alarm. Nur ins Diensttagebuch kommt eine kurze Notiz, dann herrscht wieder die Routine des Grenzdienstes. Wie jeden Tag hoffen die Posten, während ihrer Schicht möge nichts passieren. Um 15 Uhr ist Wachwechsel.
Fast eine Viertelstunde stehen Peter Fechter und Helmut Kulbeik an dem Gemüseladen, dann gehen sie die Schützenstraße zurück Richtung Osten und betreten durch eine lange Zufahrt die Tischlerei im teilweise kriegszerstörten Haus Nr. 8. In ihrer dunklen Arbeitskleidung sehen sie aus wie Beschäftigte der Firma. Problemlos gelangen sie über einen Hof mit teilweise schon vermauerten Fenstern in das Gebäude Zimmerstraße Nr. 72–74. Es ist düster, Türen und Fenster sind verrammelt. Nur ein kleines Oberlicht in mehr als drei Metern Höhe lässt etwas Helligkeit herein. Die Öffnung von vielleicht 50 mal 60 Zentimetern ist aber mit Stacheldraht gesichert. In der Halbdämmerung erkennen Fechter und Kulbeik, wie vor ihnen große Haufen Hobelspäne liegen. Beide haben den gleichen Einfall: Hier können sie sich in unmittelbarer Grenznähe verstecken und abwarten, bis die Mitarbeiter der Tischlerei Feierabend machen und ins Wochenende gehen. Sie kriechen unter die Holzspäne, wollen sich etwas ausruhen und Kraft sammeln für die entscheidenden Sekunden, die sie vor sich haben: Nur etwas mehr als zehn Meter trennen sie von West-Berlin, von der Freiheit. Allerdings müssen sie auf dieser kurzen Strecke einen dichten Stacheldrahtzaun und die zwei Meter hohe Sperrmauer mit weiterem Stacheldraht überwinden – und sie können nur hoffen, dass die Grenzposten sie nicht sehen, nicht schießen oder dabei wenigstens nicht treffen.
Ihr scheinbar so geeignetes Versteck erweist sich binnen kurzer Zeit als das Gegenteil: Unter den Holzspänen wird Fechter und Kulbeik rasch so heiß, dass an Ausruhen oder gar Schlaf nicht zu denken ist. Trotzdem harren sie aus, schließlich gibt es für sie keinen Weg mehr zurück: Mit Sägespänen an der Kleidung würden sie den Mitarbeitern der Tischlerei sicherlich auffallen, und bei einer Überprüfung durch Volkspolizei oder Stasi könnten sie keine Erklärung für ihre Anwesenheit so dicht an der Grenze angeben. Fast zwei Stunden schon verbergen sich Fechter und Kulbeik, als sich plötzlich Stimmen nähern. Mit Zeichen verabreden sie sich, dass sie die Flucht wagen wollen, sobald die Männer wieder weggegangen sind.
Als es so weit ist, verlassen die beiden das Versteck. Den Rahmen des Oberlichts lösen sie schnell, er ist nur mit zwei Nägeln befestigt. Auch der quer gespannte Stacheldraht auf der Innenseite stellt kein Hindernis dar. Zum Glück ist das Fenster von außen nicht vergittert – das hatten sie bisher nicht wissen können. Der einen halben Kopf kleinere Fechter klettert hoch und verrenkt seinen Körper, um sich durch die enge Öffnung zu zwängen. In diesem Moment betritt ein Arbeiter der Tischlerei den Raum, sieht die Fremden und bleibt »vollkommen sprachlos« stehen, wie Kulbeik auffällt. Im selben Augenblick springt Peter Fechter vorsichtig hinunter, um so nah wie möglich an der Hauswand zu landen, im toten Winkel der Wachposten auf der Charlotten- und der Markgrafenstraße, Kulbeik folgt. Für beide ist es ein Sprung ins Ungewisse: Vielleicht patrouillieren auch auf der Zimmerstraße Streifen. Oder es liegen Sperren wie der berüchtigte »Stalinrasen« auf dem Bürgersteig; so nennt der Volksmund in der DDR die Stahlgestelle mit acht Zentimeter langen spitzen Dornen, die
Weitere Kostenlose Bücher