Vergissmichnicht
Erstes Kapitel
Überlingen
Alexandra Tuleit beobachtete verblüfft, wie sich der Ausdruck im Gesicht der alten Dame binnen Sekunden komplett veränderte. Die Wangen wirkten mit einem Mal eingefallen, die sorgfältig geschminkten Lippen waren fest aufeinander gepresst und die Augen begannen zu flackern. Dabei war es doch nur eine ganz einfache Frage gewesen, eine, die Alexandra mehr aus Routine als aus echtem Interesse gestellt hatte. Denn eigentlich hatte sie die Hoffnung, Licht ins Dunkel der Geschichte zu bringen, schon längst aufgegeben.
»Und Sie wissen auch nicht, wer Carlo Bader war?«, hatte sie gefragt.
Die Hände der alten Dame, die dünnen, knöchernen Hände mit der Pergamenthaut, den Altersflecken und den dicken, goldenen Ringen, begannen zu zittern. Das Zittern übertrug sich auf die zarte, blau-weiße Teetasse aus Meissener Porzellan, die Elisabeth Meierle in den Händen hielt. Das Zittern wurde zu einem Klappern, lauter und immer lauter. Es klang in der Stille, die sich über das Zimmer gelegt hatte, beinahe bedrohlich und fand sich in einem skurrilen Rhythmus mit der laut tickenden Wanduhr.
Alexandra Tuleit sprang auf, nahm der alten Dame die Tasse aus der Hand und stellte sie vorsichtig auf den runden, auf Hochglanz polierten kleinen Kirschbaumtisch, der vor den geblümten Jugendstil-Sesseln stand, auf denen sie Platz genommen hatten.
»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte sie und fühlte Unbeholfenheit in sich aufsteigen. Unbeholfenheit deshalb, weil sie plötzlich vor einem ganz anderen Menschen saß. Verschwunden war die rosige, fröhliche, redselige Frau, die so begeistert gewesen war, die erzählt und alte Fotos herausgezogen hatte. Die es gar nicht hatte fassen können, als sie erfuhr, dass Alexandra Tuleit ausgerechnet sie ausgewählt hatte, ihre Lebensgeschichte im Zuge der Serie ›Geheimnisse der Heimat‹, die später auch als Buch erscheinen sollte, in der regionalen Zeitung, dem Südkurier, zu erzählen. So geschmeichelt war die zierliche, elegante alte Dame gewesen, dass sie unzählige Fotoalben und alte Briefe aus ihren schweren, reich mit Schnitzereien verzierten Wohnzimmerschränken hervorgekramt und Alexandra stundenlang von ihrem Leben in Überlingen erzählt hatte. Von ihren Eltern, die, nahe des Münsters in der Altstadt, noch einen Bauernhof gehabt hatten. Von dem köstlichen Vanille- und Himbeereis, das sich Überlingens Kinder im Sommer immer in tropfenden Eistüten auf der Rückseite des Café Hoch abholten. Und auch von den angstvollen Nächten im Luftschutzkeller, wo sie während des Krieges viele Stunden lang ausgeharrt hatte. Gemeinsam mit der Mutter, den Zwillingsmädchen, die vier Jahre jünger waren als sie, und der alten Dame, bei der sie in der Luziengasse zur Miete wohnten und die sie bei Fliegeralarm immer erst aufwecken mussten, weil sie schlecht hörte. Mit großem Eifer hatte Elisabeth Meierle erzählt, war tief in ihre eigene Vergangenheit eingetaucht und hatte Alexandra, eine völlig Fremde, daran teilhaben lassen.
Und nun – die komplette Verwandlung. Wegen einer einzigen Frage.
Elisabeth Meierle atmete tief durch. Ein Ruck ging durch ihren schmalen Körper, sie straffte sich und die Augen, die eben noch so trüb, fast fiebrig, geglänzt hatten, wurden eiskalt. Alexandra wurde zum ersten Mal bewusst, dass sie von einem tiefen Blau waren. Sie fröstelte.
Elisabeth Meierles Stimme war leise und schneidend, als sie antwortete: »Nein, ich weiß nicht, wer Carlo Bader war. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Wie Sie sicher bemerkt haben, ist mir nicht gut. Ich habe Kopfschmerzen.« Als müsse sie ihre Worte unterstreichen, legte sie ihre schmale Hand an die Schläfe. »Die Nachwirkungen einer Grippe, die mich letzte Woche plagte«, fuhr Elisabeth Meierle fort und ihr Ton nahm eine aufgesetzt-leidende Klangfärbung an. »Bitte gehen Sie. Bitte lassen Sie mich alleine.«
Alexandra Tuleit glaubte ihr den plötzlichen Anfall von Kopfschmerzen nicht. Und auch nicht die kürzlich überwundene Grippe. Hatte sie doch in den Tagen vor dem Treffen häufig mit Elisabeth Meierle telefoniert und die alte Dame hatte weder krank geklungen noch von einer Unpässlichkeit erzählt. Es war offensichtlich, dass der Name Carlo Bader der Seniorin einen riesigen Schrecken eingejagt hatte.
Der tragische Tod des Carlo Bader hatte sich 1980 in Überlingen ereignet. Der junge Mann war erschlagen und mit üblen Prellmarken in der Nierengegend im Stadtgarten
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