Mord im Garten des Sokrates
Die Nachrichten, die Chilon von seinen Besuchen in Athen mitbrachte, wurden immer schlimmer. Die Menschen munkelten von Hunderten von Toten. Die Stadt habe sich zweigeteilt, berichteten sie. Hier gab es die Dreißig und – ihnen folgend – die Dreitausend. Ihnen gehörte die Stadt. Dort standen die anderen Bewohner, aber die waren weniger wert als das Vieh, viel weniger … ein erster kleiner regenschauer kündete das Ende des Sommers und das Heraufziehen des Herbstes an. Kaum benetzten die ersten Tropfen den festgebackenen Boden, schien die Natur, schienen Mensch und Tier aufzuatmen. Der Regen wusch den Staub von den Blättern, Hellas ergrünte. Die letzte Süße schoss in die Reben, die Wiesenblumen streckten die Köpfe. Die Erntezeit begann, Tag für Tag liefen Schiffe voller Korn im Kantharos ein. Die Händler füllten ihre Speicher. Dann erhoben sich die Winde. Boreas trieb vom Norden her dunkle Wolken nach Attika, Zephyros aus dem Süden versprengte sie und blies sie am nächsten Tag zurück. Über Monate hatten wir nichts von Thrasybulos, Myson oder Lysias gehört und doch beinahe täglich eine Nachricht erwartet. Dann, am frühen Abend eines grauen und verwaschenen Tages, klopfte es an die Tür. Ich hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt, so sehr hatte er sich verändert. Er war zum Anführer und Feldherrn gereift, und das spiegelte sich in seinem Gesicht. Sein Blick war entschlossener, seine Züge schärfer, aber auch eine Spur herrischer geworden. Auch ihn hatten weder Alter noch Schicksal verschont. Eine Narbe lief ihm über die Stirn. Dort, wo sie endete, war sein Haar nun grau.
«Thrasybulos, mein Freund! Wir haben lange auf dich gewartet!», empfing ich ihn, als er in den Innenhof trat.
«Nikomachos! Es ist gut, dich zu sehen», erwiderte Thrasybulos, mehr nach Art eines Soldaten allerdings als nach der Art eines Bruders.
«Wir wollten den Herbst abwarten, bevor wir Kritias entgegentreten. Jetzt sind wir gerüstet!» Hinter Thrasybulos erschien Myson. Ich war froh, ihn wiederzusehen, und ihm schien es genauso zu gehen. Seine Augen leuchteten. Wie Thrasybulos war er in einen grauen Reisemantel gehüllt, unter dem sich ein Waffenrock verbarg. Aber sein Gruß bewies, dass er mein alter Schreiber und Freund geblieben war. Sofort erkundigte ich mich nach Lysias und erfuhr, dass er nicht nach Athen hatte zurückkehren wollen. «Wo sind deine Männer jetzt?», fragte ich Thrasybulos, nachdem wir die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht hatten.
«Sie halten sich hinter einer Insel kurz vor der Hafeneinfahrt verborgen», entgegnete er. «Ich wollte erst wissen, wie viele Soldaten hier in Piräus vor Ort sind, bevor wir an Land gehen.» «Es sind nur zehn Männer, ein verrotteter Haufen», sagte ich. «Sie werde keine Schwierigkeiten machen.»
«Dann hat sich seit meiner Abfahrt nichts verändert», bemerkte Myson. «Nein, sie sind höchstens noch verrotteter als damals», bestätigte ich. Thrasybulos warf den Mantel ab und durchmaß den Innenhof mit großen Schritten. «Das ist gut», sagte er und rieb sich die Hände. «Dann wird die Landung nicht schwierig.»
Mittlerweile war Chilon auf seine neuen Gäste aufmerksam geworden und kam zu uns hinaus in den Innenhof. Thrasybulos begegnete ihm freundlich, nahm seine Einladung zu einem kleinen Essen und zum Übernachten aber beinahe ein wenig zu selbstverständlich hin. Ich sah zu Myson hinüber und runzelte die Stirn. Ja, bedeutete er mir stumm, unser Freund hat sich verändert. Nach dem Imbiss zogen wir uns zurück, um die Landung vorzubereiten. Thrasybulos erklärte uns seinen Plan und die Rollen, die er uns darin zugedacht hatte. Myson sollte noch heute Nacht mit einem kleinen Boot zu den Trieren hinausrudern und den Kapitänen Bescheid geben. Der Mond stand günstig. Der Weg müsste sich auch in der Dunkelheit finden lassen. Ein brennender Pfeil würde das Signal dafür sein, dass Thrasybulos’ Männer die Riemen zu Wasser gelassen hatten und die Schiffe in Richtung Piräus steuerten. Sobald die Flamme in den Nachthimmel stieg, mussten wir die Landungsfeuer entzünden, damit die Schiffe den Hafen sicher ansteuern konnten.
«Die Landungsfeuer sind ein Risiko», bemerkte ich halb in Gedanken, als Thrasybulos zum Schluss gekommen war. «Warum?», fragte er knapp. «Weil Charmides’ Soldaten das Feuer entdecken und sicher nachsehen werden, was es damit auf sich hat, so betrunken sie in dem Moment auch sein mögen.» «Wir werden sie zu empfangen wissen»,
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