Mord im Garten des Sokrates
erhob sich über den Wassern der Häfen und spiegelte sich in den schwarzen Wellen. Der Wind kam vom Norden. Er trieb feuchtes Laub durch die Gassen. Die Soldaten schlugen ihre Mäntel enger; die Wachen drängten sich um die Feuer.
Myson und ich standen auf dem Hügel bei Murchia. Von hier aus hatte man freie Sicht auf das Feld, auf die Häfen und die Stadt.
«Das ist ein guter Platz für die Bogenschützen», sagte Myson zuversichtlich. «Von hier aus tragen die Bogen zwei oder drei Stadien weit. Noch bevor Kritias sichs versieht, haben wir die Hälfte seiner Hopliten getroffen.»
Ich nickte, entzündete einen mit Pech getränkten Pfeil und legte ihn auf. Das Geschoss surrte von der Sehne und zog am Nachthimmel wie eine Sternschnuppe seine Bahn, bis es weit vor uns zu Boden ging.
«Drei Stadien», sagte ich.
«Drei», bestätigte Myson.
Wir besprachen kurz die Aufstellung der Männer und gingen anschließend zum Lager zurück. Es war kalt. Ich trug einen doppelten Mantel und warf ihn mir zweimal um die Schultern. Aspasia hatte ihn in den letzten Wochen für mich gewebt und ihn mir heute Mittag ins Lager gebracht. Es war eine feine, mühevolle Arbeit. Sie überreichte ihn mir mit einem Kuss und wünschte mir Glück.
«Du bist schweigsam geworden, seit wir in Piräus sind», sagte Myson, als wir uns schlafen legten. «Was beschäftigt dich?»
«Nichts», log ich und wandte mich ab. Ich war froh, dass Myson nicht weiter fragte.
Der nächste Tag empfing uns mit klirrender Kälte. Steif gefroren erhob ich mich von meinem Feldlager. Eine hauchdünne Eisschicht lag auf dem Wasser in meinem Waschbecken.
«Was meinst du, kommt er heute?», fragte ich Myson, der vor mir wach geworden war.
«Wir werden sehen», antwortete er lakonisch, und sein Atem dampfte dabei.
Kritias kam nicht, und Thrasybulos war nicht unglücklich deswegen. Er ließ die Hopliten antreten und die Angriffsformationen üben. Mit Schild und aufgestelltem Speer sprengten sie im Laufschritt über das Feld. Zwischen den Angriffen sangen sie, um sich die Angst zu vertreiben. Ich sammelte meine Schützen am Hügel und ging mit ihnen noch einmal alle Befehle durch. Eine graue und kraftlose Sonne stand über unseren Köpfen.
In der folgenden Nacht gefroren die Pfützen. Niemand, noch nicht einmal Myson, erinnerte sich an einen so kalten Herbst. Selbst unsere Winter waren normalerweise milder als das, was wir jetzt zu ertragen hatten! Bevor sich meine Männer schlafen legen durften, ließ ich sie die Bogen mit Schweinetalg einfetten und über den Lagerfeuern warm halten.
«Sie kommen, sie kommen!» Ein jäher Schrei weckte uns noch vor Sonnenaufgang. Die Männer sprangen auf, schimpften und liefen wild durcheinander. Kritias hatte den Vollmond genutzt, um sich, ohne eine einzige Fackel zu entzünden, mit seinen Truppen in der Nacht von Athen nach Piräus vorzutasten. Unsere Wachen hatten seine Armee erst zehn Stadien vor unserem Lager ausgemacht. Nur einen Augenblick später, und er hätte uns überrannt und niedergemetzelt. Kein Zweifel, das Moment der Überraschung war auf seiner Seite, aber noch war nichts verloren.
Ich ließ die Bogenschützen auf dem Hügel Stellung beziehen. Hinter uns ertasteten die ersten Sonnenstrahlen den Himmel und färbten ihn grau. Der Nordwind brachte dicke, schwere Wolken, die tief über unseren Köpfen hingen.
Es dauerte nicht lange, und wir sahen die Helme unserer Feinde im Licht der Sonne blinken. Feinde, sage ich? Landsleute, Athener, ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll: Feinde jedenfalls an jenem Tag. Kritias’ Heer war doppelt so groß wie das unsere. Wer hätte gedacht, dass er noch so viele Männer zu den Waffen rufen konnte? Es mussten die Männer sein, mit denen Kritias die Beute teilte. Kein anderer würde den Speer gegen uns führen. Was war mit Raios? War vielleicht mein Schwiegervater unter diesen Männern dort?
Als Kritias erkannte, dass wir ihn bereits erwarteten, ließ er den Aufmarsch stoppen. Rechts und links hatte er Reiterei, in der Mitte die Hopliten aufgestellt. Leichtbewaffnete sah ich nur wenige. Ein versprengter Überrest der Toxotai ging vor den Hopliten her, sonst sah ich keine Schützen. Einen Moment lang standen sich die Truppen unbeweglich gegenüber. Die Standarten wehten im Wind, während die Sonne die letzten Schatten aus dem Tal vertrieb und sich auf den Helmen spiegelte.
Von rechts begann die Reiterei auf das Feld zu stürmen, knapp zwei Stadien entfernt. Besser konnten wir es gar nicht
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