Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
gewesen. Gestern hatte es für die Gäste ein vegetarisches Menü gegeben, das von den Köchen des Kosthauses Schwarz zubereitet worden war, und heute würden sie in die Flitterwochen aufbrechen. Die frischgebackene Frau Sanftleben hatte noch keine Ahnung, was sie erwartete.
Otto kletterte aus dem Bett und tappte auf Zehenspitzen über das Parkett. Im Ankleidezimmer legte er ihr einen schwarzen Hut mit Kinnriemen und ein schwarzes Kostüm zurecht, das er ohne ihr Wissen hatte anfertigen lassen. Dann zog er sich an und begab sich ins Erdgeschoss, wo er das Dienstmädchen Lina anwies, seiner Frau das Frühstück ans Bett zu bringen. Er nahm selbst eine Kleinigkeit zu sich und trommelte schließlich Moses und den Gärtner zusammen, um die letzten Vorbereitungen zu treffen.
Zwei Stunden später stand er auf dem Vorplatz der Villa und ließ das Gepäck auf die Kutsche verladen. Igraine trat nach draußen und kam zu ihm. Obwohl es sich nicht schickte, in Gegenwart der Dienerschaft Intimitäten auszutauschen, küsste sie ihn so intensiv, dass er am liebsten noch mal nach oben gegangen wäre. Sie hatte vermutlich bemerkt, in welchen Zustand sie ihn versetzt hatte, denn in ihren Augen lag ein Funkeln, das er in der vergangenen Nacht mehrfach kennengelernt hatte.
»Was hast du mir nur für ein seltsames Kostüm gekauft?«, fragte sie. »Beim Anziehen wusste ich nicht recht, ob es ein Rock oder eine Hose ist.«
»Es ist beides«, erwiderte Otto. »Wenn du den Rock in der Mitte teilst und die beiden Hälften um dein linkes und rechtes Bein knöpfst, entsteht eine Hose. Wenn wir unterwegs sind, wirst du sie brauchen.«
»Wieso das?«
»Weil wir nicht überall deinen Rocksaum hochschlagen können und er sich ansonsten in der Kette verfangen könnte.« Otto zeigte auf zwei Fahrräder, die frisch geölt in der Sonne blitzten. »Wir fahren nach Florenz, nach Venedig und nach Rom, so wie du es dir immer gewünscht hast, aber wir werden für den Weg etwas länger brauchen als die anderen Brautpaare.«
»Jetzt verstehe ich«, sagte Igraine, »warum du mir das Fahrradfahren beigebracht hast.«
»Ich hätte niemals eine solche Tour geplant, wenn du nicht so viel Freude daran gehabt hättest. Was sagst du?«
»Ich bin begeistert. Und ich bin auch ein bisschen stolz, dass du mir eine solche Strecke zutraust.«
»Moses wird mit dem Gepäck vorausreisen und uns in den Hotels erwarten. Falls schlechtes Wetter sein sollte oder die Erschöpfung zu groß wird, laden wir die Räder einfach auf und fahren eine Etappe mit der Kutsche. Die Alpen werden wir natürlich mit dem Zug überqueren. Und falls du ein interessantes Motiv entdecken solltest, kannst du so lange zeichnen, wie du willst. Einen Skizzenblock und Bleistifte stecken in der schwarzen Ledertasche, die sich im Fahrradrahmen befindet. Deine übrigen Zeichenutensilien sind in den Koffern verpackt.«
»Du bist ein Schatz«, sagte sie und küsste ihn erneut. »Wo fahren wir heute hin?«
»In ein kleines Hotel am Schwielowsee.«
»Dann lass uns starten. Ich brauche den Wind um die Nase.«
Wenig später radelten sie über die befestigte Chaussee, die nach Potsdam führte. Der aromatische Geruch der Kiefern hing in der Luft, und ihre orangebraunen Stämme leuchteten in der Sonne. Während Otto in die Pedalen trat, überkam ihn ein seltsam klarer Gedanke: Das wird mein Leben sein, dachte er. Hier am Wannsee würde er alt werden. Er würde seine Bücher verfassen und auf Verbrecherjagd gehen. Und vor allem würde er an der Seite dieser Frau sein.
»Was fährst du so lahm?«, fragte Igraine. »Ich dachte, du warst mal ein Rennfahrer. Siehst du das Schild da vorne? Wer es zuerst erreicht, verdient sich eine Massage.«
»Einverstanden«, sagte Otto. »Ich gebe dir hundert Meter Vorsprung.«
Er beobachtete, wie Igraine sich aufstellte und schnell in die Pedale trat.
Das wird mein Leben sein, dachte er und lächelte.
Tom Pieper
MORD UNTER DEN LINDEN
Historischer Kriminalroman
ISBN 978-3-86358-061-2
»Ein äußerst kurzweiliger, interessanter historischer Krimi, der sich schon von der Thematik her aus der Masse abhebt. Eine volle Empfehlung für vergnügliche Lesestunden!«
Leser-Welt.de
Leseprobe zu Tom Pieper,
MORD UNTER DEN LINDEN
:
Prolog
Courcelles in Frankreich, 13. September 1870
Sie hatten ihn
ausgezogen, Eisenringe um die Hand- und Fußgelenke geschlagen und nackt an die
Mauern gekettet. Die Arme standen im rechten Winkel vom Körper ab, seine Beine
waren
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