Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
beantwortet. Er wollte sich Dr. Gessken zeigen, wie er war – mit allen Facetten und mit allen Konsequenzen.
»Das ist meine Großmutter«, sagte er. »Ich bin bei ihr aufgewachsen. Bis zu ihrem Tod haben wir hier zusammen gewohnt. Wenn ich für sie mitkoche, habe ich das Gefühl, dass sie immer noch bei mir ist. Ich hoffe, dass Sie diese Angewohnheit nicht seltsam finden.«
» C’est vraiment touchant «, sagte Dr. Gessken gefühlvoll.
»Aber bitte«, sagte der Commissarius schnell. »Bitte nehmen Sie doch Platz. Als Aperitif gibt es einen Moët & Chandon. Ich hoffe, dass Sie Champagner mögen.«
In diesem Augenblick klopfte jemand kräftig an die Wohnungstür. Der Commissarius zuckte zusammen und sah sich gehetzt um.
»Wir sind Kollegen«, sagte Dr. Gessken beruhigend. »Wir haben uns heute Mittag getroffen, um bei einer gemeinsamen Mahlzeit über dienstliche Angelegenheiten zu plaudern. Das ist eine Darstellung, die wir getrost nach außen tragen können.«
»Natürlich«, sagte der Commissarius, zog sein Jackett glatt und begab sich in den Eingangsbereich. Als er die Klinke herunterdrückte, machte er sich auf alles gefasst. Dann öffnete er die Tür und sah in das gleichgültige Gesicht des Briefträgers, der ihm ein Couvert aushändigte, das in Hamburg aufgegeben worden war.
Der Commissarius betrachtete die Postsendung von allen Seiten und überlegte, ob er sie zu einem späteren Zeitpunkt, wenn Dr. Gessken wieder gegangen war, lesen sollte. Die gemeinsame Zeit mit dem Gerichtsarzt war knapp bemessen. Er hatte nämlich am Nachmittag noch einen Termin, den er unter keinen Umständen verpassen durfte. Andererseits hatte er in seiner langjährigen Berufspraxis gelernt, dass manchmal schnelles Handeln nötig war, um Schlimmes zu verhindern. So riss er den Brief auf und zog einen billigen gelben Bogen Papier heraus, der beidseitig beschrieben war. Er las:
Sehr geehrter Herr Funke,
wenn Sie diesen Brief in den Händen halten, befinde ich mich auf einem Dampfpostschiff ans andere Ende der Welt, wo ich neu anfangen möchte. Vermutlich haben Sie nicht mitbekommen, dass meine Frau und meine Tochter beim Untergang des Ausflugsbootes MS ›Wilhelmina‹ im vergangenen Herbst ertrunken sind.
Nach wilden Jugendjahren war es meine Frau, die mich auf den rechten Weg führte und mir das Wort Gottes näherbrachte. Nach ihrem und dem Tod unseres geliebten Mädchens verlor ich den Boden unter den Füßen. Ich traf mich mit früheren Antisemitenfreunden und wiederholte – auch gegenüber Ihnen – die alten Phrasen, aber ohne rechte innere Überzeugung zu spüren. Wenn man von der Liebe gekostet hat, schmeckt der Hass nur noch wie ein fader Ersatz.
Hier erinnerte mich alles an die beste Zeit meines Lebens, die unwiderruflich verloren war und niemals wiederkehren würde. Mir wurde klar, dass ich nicht in Berlin bleiben konnte. Um in ein anderes Land zu reisen, fehlten mir die Mittel. Daher beschloss ich, das Geld zu erpressen. Ich wusste, dass Sie ein ordentliches Gehalt bezogen und alleine lebten. Ich ging davon aus, dass Sie Rücklagen fürs Alter angesammelt hatten. Außerdem vermutete ich, dass Sie dem dritten Geschlecht angehörten. Beweise für strafrechtliche Vergehen hielt ich nicht in der Hand. Das Geld für die Schiffsreise konnte ich mir mittlerweile anderweitig besorgen, aber eines möchte ich Ihnen noch sagen:
Abgesehen von der ständigen Benutzung französischer Redewendungen waren Sie ein vorbildlicher Vorgesetzter, bei dem ich viel über die Polizeiarbeit gelernt habe. Bitte nehmen Sie die Entschuldigung eines Mannes entgegen, der erneut vom rechten Pfad abgekommen und nun auf der Suche nach Gott ist. Im Hinblick auf unsere langjährige gemeinsame Tätigkeit würde es mich freuen, wenn Sie mich als den zuverlässigen Polizisten in Erinnerung behalten, der ich vor dem Verlust meiner Familie gewesen bin. Genehmigen Sie mir zum Abschluss die Versicherung meiner beruflichen Hochachtung.
Kriminalpolizeiwachtmeister a. D. Holle.
Der Commissarius faltete den Brief zusammen, steckte ihn zurück ins Couvert und legte ihn auf die Kommode. Eine Weile betrachtete er ihn regungslos. Er wusste noch nicht, wie er sich positionieren sollte. Das hatte auch noch Zeit. Jetzt würde er sich erst einmal um Dr. Gessken kümmern.
Charité
Otto betrat das saalartige Krankenzimmer, in dem Professor von Trittin ganz allein lag. Durch die großen Fenster war es angenehm hell, auf einem Beistelltisch steckte ein
Weitere Kostenlose Bücher