Mord in Der Noris
Lichterketten eingeschaltet. Am anderen Ende des
Schlossplatzes, auf der taghell ausgeleuchteten Hauptbühne vor dem
Landestheater, war der Moderator, ein kleinwüchsiger Berufsjugendlicher des
Lokalradios, in seinem Element: In weißer Jeans, weißem Shirt und mit weißem
Headset fegte er wie ein Irrwisch über die Bühne, um, mit heiser überkippender
Stimme, den dreitausend Fans den Top-Act des Abends zu präsentieren: »Und hier
sind sie; begrüßt mit mir, aus Pernambuco in Brasilien, welcome to
Coburg-Samba-City, welcome the one and only Ba-te-ria do Sam-ba Bra-sil!«
23:03 Uhr
Letzte Zugabe der »Bateria
do Samba Brasil«: Aufpeitschend hämmerten die Samba-Rhythmen durch die
schwülwarme Vollmondnacht. Trommeln und Tamburine rasten wie entfesselt,
trieben Tänzerinnen und Zuschauer in einen infernalischen Wirbel purer
Leidenschaft und Lebenslust; wie elektrisiert zuckten schweißnasse Leiber zum
stampfenden Stakkato des Samba-Grooves – Ekstase …!
… Ekstase! dachte Jasmin Keller
fasziniert, Samba ist die absolute Ekstase! Der pure Sex. Unfassbar, was in
Coburg heute Nacht wieder abgeht – wir sind der Nabel der Welt!
Die dunkelblonde Studentin saß
zwei Steinwürfe weiter im Hofgarten, dem Landschaftspark, der sich über den
Schlossplatz-Arkaden an die Hänge des Festungsbergs schmiegt. Hingerissen
lauschte sie zum Schlossplatz hinunter, der unter den brasilianischen
Perkussionskaskaden förmlich zu vibrieren schien … oder war es nur der
Caipirinha, der durch ihre Adern rauschte?
Entspannt ließ sie sich wieder
ins warme Gras zurücksinken. Ihre Lippen schmeckten immer noch leicht salzig.
Was für ein geiler Tag: von Alex im »Carrera« abgeholt, den ganzen Abend
Samba-Party und jetzt den coolen Porschefahrer endlich mal ganz privat ins
Schwitzen gebracht …
This … could be the first …
day of my life …!
Wo Alex bloß so lang blieb?
»Muss mal kurz austreten«, hatte er ihr vorhin ins Ohr gewispert und
war ein Stück weiter hinter den großen, dunklen Büschen verschwunden.
Jasmin blickte sich suchend um.
Das Wiesenstück, das sie von ihrem Platz aus überblicken konnte,
hatte sich geleert. Auch das Hippiepärchen, das dort drüben unter der Douglasie
gelegen und sich unter seiner Decke stundenlang wie in Zeitlupe bewegt hatte,
war nicht mehr da. Weiter oben, wo die Milchgesichter in ihren Skatershorts und
Basecaps zusammengesessen hatten, steckten jetzt nur noch leere Flaschen – auf
Stöcken, die in den Rasen gespießt waren. Sogar Bocksbeutel waren dabei. Im
blassen Mondlicht erinnerten sie Jasmin plötzlich an ein längst vergessen und
verdrängt geglaubtes Bild: »Aufgespießte Schrumpfköpfe bei Indianern im
Amazonasgebiet«.
Vor keinem anderen Bild im Lexikon ihres Großvaters hatte sie sich
als kleines Mädchen so gefürchtet. Sie sah sich wieder auf seinen Knien sitzen,
mit ihm das Lexikon durchblättern, hörte sein tiefes, gespielt überraschtes
Lachen, wenn die Seite mit den Schrumpfköpfen kam und sie sich die Händchen vor
die Augen schlug und trotzdem immer wieder wie gebannt durch ihre Finger linsen
musste …
Aufgespießte Schrumpfköpfe – und aus dem Hintergrund der dumpfe
Sound der Sambatrommeln … sie schauderte kurz und ärgerte sich gleich darauf
über ihre absurden Assoziationen.
Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Auch ihre Blase machte sich
jetzt bemerkbar.
Sie schlüpfte in ihre nagelneuen, strassbesetzten Pantoletten –
»Dolle Schläbble, Marke ›Boxenluder‹?«, hatte Alex gefeixt – und erhob sich.
Vom Festungsberg zog eine kühle Brise herab. Jasmin warf die lange blonde Mähne
in perfekt einstudierter Pose nach hinten. Mit verschränkten Armen, die
gläsernen Schrumpfköpfe keines Blickes würdigend, stakste sie vorsichtig über
den Rasen, lugte um die große Buschreihe herum.
Nichts.
Kein Alex.
Weit und breit keine Menschenseele.
Irritiert und leicht verärgert blickte sie sich um.
Hatte sich Alex allen Ernstes aus dem Staub gemacht? Unten, auf dem
Schlossplatz, tobte das Leben. Hier oben, hinter diesen großen, dunklen
Büschen, schien alles düster, still und seltsam fremd.
Müsste dort hinten nicht eigentlich ein Spielplatz sein? Ich kenne
mich hier einfach zu wenig aus, dachte Jasmin. Seit ihrem Studienbeginn in
Coburg im letzten Wintersemester war sie nur ein einziges Mal im Hofgarten
gewesen. Egal! Ihre Blase meldete sich immer heftiger. Sie kehrte dem Buschwerk
den Rücken zu, knöpfte ihre Jeans auf, zog mit geübtem Griff
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