Mord in Der Noris
Elvira
Platzer gelegen hatte, war nun frei begehbar. Zwar hässlich gemustert von den
braunen bis dunkelroten Blutspuren, aber auf einer Fläche von ein mal zwei
Metern erfreulich leer.
Sie ging nach hinten durch und betrat das
Schlafzimmer. Auch hier stapelten sich Obstkisten, Pappkartons und Regale bis
an die Decke, Letztere vollgestopft mit Büchern, Plastiktüten, Klopapierrollen
und, sofern sie das auf den ersten Blick richtig deutete, noch original
verpackten Kleidungsstücken. Als sie in das nächstbeste Fach griff und eines
dieser in Plastik verschweißten Kleidungsstücke herauszog, kam ihr die ganze
Fracht des Regalfachs mit entgegen. Sie sah auf den bunten Haufen zu ihren
Füßen, bückte sich und versuchte, alles wieder an Ort und Stelle zu legen. Ein
vergebliches Unternehmen, denn spätestens nach der zur Hälfte geglückten
Rückführaktion machte sich die Ladung jedes Mal wieder selbstständig und fiel
vor ihre Füße.
Sie spürte, wie Ungeduld und Übellaunigkeit in ihr
hochstiegen. Tief ein- und ausatmend besah sie sich die restliche Möblierung.
Vor dem Obstkistenstapel unter dem Fenster stand ein Jugendbett mit ehemals
weißem, jetzt fleckig-beigem Schleiflackfurnier, auch darauf thronten meterhohe
Pyramiden aus getragener und unbenutzter Kleidung. Davor ein breiter
Polstersessel mit einer welligen Mulde in der Mitte und einem leicht fleckigen
Polsterschoner – sonst nichts. Hier also hatte die Platzer ihr Nachtlager aufgeschlagen,
vermutete sie, denn eine zweite freie Sitzfläche oder gar Schlafgelegenheit gab
es in dem Zimmer nicht.
Was für ein erbärmliches Leben, das einen sogar dazu
zwang, die Nacht im Sitzen zu verbringen und auf das behagliche, ja lustvolle
Ausstrecken der Arme und Beine am Ende des Tages zu verzichten. Stundenlang nur
dazuhocken und abzuwarten, dass ein neuer Tag anbrach und alles wieder von
vorne losging.
Da ging der ehemaligen Soziologiestudentin ein Begriff
durch den Kopf, den sie in seiner akademischen Abstraktion nie so richtig
verstanden hatte und der doch für diese zugemüllte Wohnung eine passende
Erklärung lieferte. War es der Fetischcharakter der Warenwelt, der Elvira
Platzer zum Verhängnis geworden war? Der sie all die Dinge, die ihr irgendwo in
die Finger kamen, als Beute heimtragen und bewahren ließ, wertvollen Trophäen
gleich? Und irgendwann hatten die so gehorteten Waren, die wesenlosen Wesen
dann ihre eigene Ordnung entwickelt, eine harte und unversöhnliche, und ihrer
Eigentümerin ein Leben diktiert, das sie zum Schlafen auf diesen Polstersessel
mit seiner welligen Mulde verbannt hatte.
Wie sie auf den durchgesessenen Sessel starrte, war
eine große Leere in ihr. Ihre anfängliche Neugier und die zwischenzeitlich
aufkeimende schlechte Laune waren jetzt Verzagtheit und sogar Schwermut
gewichen. In diesem Moment wollte sie nichts mehr mit dem Fall Platzer, Elvira
zu tun haben. Abrupt drehte sie sich um und verließ die Wohnung.
Als sie bereits im Erdgeschoss angelangt war, fiel ihr
ein, dass sie dort oben zwei entscheidende Sachen vergessen hatte. Vor allem
hatte sie vergessen, machte sie sich insgeheim den Vorwurf, im Schlafzimmer
nach den größten Schätzen ihres Mordopfers zu suchen. Vielleicht lagerten diese
ja immer noch, wie Erwin Platzer ihr gegenüber beiläufig erwähnt hatte, in
einer Plastiktüte unter dem durchgesessenen Schlafsessel? Widerwillig stieg sie
die Treppe wieder hoch, schloss die Wohnungstür auf, ging zurück ins
Schlafzimmer, schob die Kleiderberge vor dem Liegesessel mit dem Fuß zur Seite,
bückte sich und griff mit der rechten Hand unter das Möbel. Zwei, drei, vier,
fünf Taschenschirme, alle mit dem roten Punkt und alle ohne jeden
Gebrauchswert, waren ihre ersten Fundstücke. Es folgten ein Federmäppchen aus
braunem Leder, ein Briefumschlag mit vier Ersttagsbriefen, zwei gelbe
Glaskugeln für Teelichte. Dann endlich bekam Paula die Preziosenkollektion der
Elvira Platzer zu fassen. Zufrieden zerrte sie eine mit einem Bindfaden fest
verschnürte Plastiktüte hervor. Nachdem sie die Wohnungstür verschlossen hatte,
klebte sie sorgfältig ein Siegel auf die Nut zwischen Rahmen und Tür.
Vor dem Haus zündete sie sich eine Zigarette an und
sah auf die Uhr. Noch nicht einmal Viertel nach zwei, sie hatte fast noch drei
Stunden Zeit, um sich mit Heinrich zu treffen. Die Aussicht, dann mit drei
Menschen zu sprechen, die ihr und Heinrich nur widerstrebend Auskunft geben und
für ihre Tante respektive Schwägerin
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