Naechte am Rande der inneren Stadt
|9| I.
Schattennächte
|11| Zu jener Zeit gaben wir uns gern Namen. Wir waren jung, und nichts war entschieden. Wir spielten wie Kinder, bis es ernst
wurde, und es gab Verlierer und Gewinner. Im Spiel mit Eva hatte ich immer geglaubt, der Verlierer zu sein. Bis ich Heumann
traf.
Jetzt liege ich nachts oft wach und sehe undeutliche Schatten an meinen Wänden. Mein Schlafzimmer geht in den stillen Hinterhof
hinaus, und manchmal höre ich nur die Lichter in den Treppenfluren anspringen, wenn jemand nach Hause kommt. Ich suche Sätze
für meine Erinnerungen, und am Morgen im Halbschlaf sammle ich Bilder. Ich klammere mich an diese Bilder. Ich kritzele sie,
in knappe Worte übersetzt, bei der Arbeit auf Zettel, wenn ich Akten durchsehe, mit Klienten telefoniere oder beim Rauchen
aus dem Fenster starre. Ich sehe Evas Gesicht, das sie morgens auf die Tischplatte neben den Teller legte. Ihre helle Haut,
so weich, dass die Abdrücke der Falten des Kissens darauf zu sehen waren und jedes Haar, das sich im Schlaf unter ihre Wange
geschoben hatte. Sie war eine unruhige Schläferin und erzählte oft von ihren Träumen. Sie brauchte eine Kanne Kaffee, bevor
sie ansprechbar war. Manchmal sah sie mich aus ihren grünen Augen wie aus weiter Ferne an. |12| Nicht sprechen, sagte sie, bitte. Schmier mir Honig drauf, danke.
Bitte, danke, ja.
Ich lernte Eva kennen, weil sie eine Anzeige aufgegeben hatte. Sie suchte eine Wohnung; ich bot ihr am Telefon eine Mitwohngelegenheit
an. Das ist nett, sagte sie, aber ich will allein wohnen. Wir kamen ins Reden, was machst du, was studierst du, wir lachten
über irgendwelche kleinen Sätze, und ich verliebte mich in ihre Stimme. Ich fasste meinen Mut zusammen und fragte, ob wir
uns nicht einmal sehen könnten. Wir verabredeten uns, und es begann.
Es war die Zeit, in der die Zeit viel langsamer verstrich als heute, in der wir für alles viel mehr Zeit hatten und haben
durften, in der Solidarität eine feste Überzeugung war und Zukunft ein schönes Wort. Wir lebten in schmutzigen Hinterhöfen,
Berlin war eine Insel, deren Mauer bröckelte, und wir heizten unsere Öfen mit Kohle, die wir aus dem Keller hochschleppten.
Ich wanderte damals gern durch die Straßen im Wedding, vorbei an den alten Häusern, und betrachtete die Einschusslöcher aus
dem Krieg und die alten Aufschriften auf den Häuserwänden von Geschäften, die es hier einmal gegeben hatte. Mein Großvater
erzählte mir viel von der Zeit vor dem Krieg und der unmittelbar danach, von der Atmosphäre der Stadt in den fünfziger Jahren,
bevor die Mauer gebaut worden war. Mein Großvater war Psychiater; ich bin bei ihm aufgewachsen, seit meine Eltern bei einem
Autounfall ums Leben kamen. Ich war vierzehn. Meine Großmutter starb noch im selben Jahr.
Opa benutzte Stofftaschentücher, die er von einer Zugehfrau bügeln ließ, er las jeden Morgen die Zeitung und trank jeden Abend
vor dem Essen ein Glas Sherry oder Port. Er hatte viele solcher Gepflogenheiten, die ich liebte wie seine Erzählungen. |13| Ich hatte das Gefühl, sie verbänden mich mit früheren Zeitschichten, für die ich eine große Aufmerksamkeit entwickelte. Von
meinem Taschengeld kaufte ich manchmal alte Fotos auf dem Flohmarkt und betrachtete sie mit Opa. Stundenlang konnten wir uns
über sie unterhalten, von wann sie waren, wen oder was sie zeigten. Wenn Opa Worte wie »Kaiserzeit« oder »Weimarer Republik«
aussprach, klangen für mich darin Welten mit, durch die er mich gern und oft spazieren führte.
Heute denke ich, dass Menschen wie ich, für die das, woher sie kommen, in irgendeiner Form versperrt oder schwierig ist, viel
versessener auf diese Spurensuche sind als andere. Vielleicht täusche ich mich auch. Ich stelle für mich selbst oft Behauptungen
auf, die ich gleich wieder bezweifle. Dazu neige ich im Grundsätzlichen wie im Detail.
Wegen meiner Liebe zu Opa und den Spuren kam es völlig selbstverständlich dazu, dass ich Geschichte studierte. Ich entschied
mich zusätzlich für Jura, das galt damals als sichere Sache. Mein Vater war wie mein Großvater Arzt gewesen; ihnen darin zu
folgen, hatte ich wenig Lust, auch wenn ich mich gern wie die beiden kleidete: Ich trug nämlich schon als Junge, mit fünfzehn,
sechzehn Jahren, am liebsten Seiden- und Leinenhemden, wie sie. Ich mochte das glatte, kühle Gefühl auf der Haut. Ich besaß
nicht viele, einige waren tatsächlich noch von meinem Vater,
Weitere Kostenlose Bücher