Mord nach Liste
Ruhe gelassen. Der Mann hatte nicht gewusst, dass es ihn überhaupt gab. In seiner Naivität nahm er an, er habe Panikattacken oder »Anfälle«, wie er sie gern nannte, das klang nicht so furchterregend. Die Anfälle kündigten sich immer mit einer großen Unruhe an. Das Gefühl war nicht einmal unangenehm. Es war, als würde er die Arme um einen heißen Stein schlingen, um seinen frierenden Körper zu wärmen, doch im Laufe des Tages wurde der Stein immer heißer, bis er schließlich eine unerträgliche Hitze verströmte. Und dann wurde diese Unruhe übermächtig, prickelte auf der Haut und brannte in der Lunge, so dass er am liebsten laut geschrien hätte. In seiner Verzweiflung überlegte er immer, eine von den Tabletten zu nehmen, die der Arzt ihm verschrieben hatte, tat es dann aber doch nicht, weil er befürchtete, die Medikamente würden ihn schwächen.
Er glaubte, ein guter Mensch zu sein. Er zahlte seine Steuern, ging sonntags in die Kirche und hatte eine anständige Arbeit. Sie war anstrengend, er musste stets voll da sein, sie verlangte seine ganze Konzentration, so dass er keine Zeit hatte, über die schwere Bürde nachzudenken, die zu Hause auf ihn wartete. Überstunden machten ihm nichts aus. Im Gegenteil, manchmal war er sogar froh darüber. Weder in seinem beruflichen noch in seinem privaten Leben lief er vor der Verantwortung davon. Er kümmerte sich um seine Frau Nina, die im Rollstuhl saß. Es war ihre Idee gewesen, nach dem Unfall nach Chicago zu ziehen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Bereits zwei Wochen nach dem Umzug hatte er Arbeit gefunden – ein gutes Omen. Sein Leben war hektisch, aber schön. Nina und er hatten beschlossen, von einem Teil der Entschädigung ein geräumiges Haus am Stadtrand zu kaufen. Kaum dass sie ausgepackt hatten, machte er sich daran, Rampen einzusetzen und das Erdgeschoss umzubauen, damit Nina mit ihrem federleichten Rollstuhl, einem hochmodernen Modell, problemlos überall hingelangte. Ninas Beine waren bei dem Unfall zertrümmert worden, sie würde, das stand fest, nie wieder laufen können. Er fand sich mit dem Schicksal ab und schaute nach vorn. Erleichtert beobachtete er, wie seine Frau langsam ihre alte Stärke zurückgewann und lernte, tagsüber alleine zurechtzukommen.
Wenn er zu Hause war, verwöhnte er sie. Jeden Abend kochte er, wusch anschließend ab und verbrachte den Rest des Abends mit ihr vor dem Fernseher, schaute ihre Lieblingssendungen.
Sie waren seit zehn Jahren verheiratet, doch ihre Liebe war noch so groß wie am ersten Tag. Der Unfall hatte höchstens verhindert, dass sie selbstzufrieden wurden oder nicht mehr zu schätzen wussten, was sie aneinander hatten. Kein Wunder. Seine geliebte Nina war auf dem Operationstisch praktisch tot gewesen und dann auf wundersame Weise zurückgekehrt. Die Chirurgen hatten die ganze Nacht durchoperiert, um sie zu retten. Als er erfuhr, dass Nina durchkommen würde, war er in der Krankenhauskapelle auf die Knie gefallen und hatte geschworen, für den Rest seines Lebens alles zu tun, um sie glücklich zu machen.
Er führte ein reiches, erfülltes Leben … mit einer kleinen Ausnahme.
Der Dämon hatte sich ihm nicht nach und nach offenbart. Nein, er war ganz plötzlich da gewesen.
Es passierte mitten in der Nacht. Der Mann hatte nicht schlafen können und war in die Küche gegangen, weil er sich nicht im Bett herumwälzen und Nina wecken wollte. Er lief auf und ab. Ein Glas Milch würde das Zittern in seinem Körper beruhigen und ihn müde machen, dachte er, aber es half nicht. Er wollte das leere Glas gerade in die Spüle stellen, als es ihm aus der Hand glitt und im Becken zersprang. Das Geräusch schien durch das ganze Haus zu hallen. Er eilte zur Schlafzimmertür und lauschte. Seine Frau schlief tief und fest. Erleichtert tappte er in die Küche zurück.
Die Unruhe wurde stärker. Verlor er den Verstand? Das konnte nicht sein. Er hatte nur wieder einen Anfall, mehr nicht. So schlimm war es nicht. Er würde schon damit fertig werden.
Auf dem Küchentresen lag die Zeitung, er nahm sie mit zum Tisch. Er wollte sie Seite für Seite lesen, bis ihm vor Müdigkeit die Augen zufielen.
Zuerst las er den Sportteil, jeden einzelnen Bericht, dann widmete er sich dem Regionalteil. Er überflog einen Artikel über die Einweihung eines neuen Parks und einer neuen Joggingstrecke. Gebannt faltete er die Zeitung auseinander. Sein Blick fiel auf das Foto einer schönen, jungen Frau, die zwischen mehreren Männern
Weitere Kostenlose Bücher