Mordsmöwen
an Beute wurden dabei nur die Männchen. Der letzte Saisonabschnittsgefährte wollte nicht mal mit ihr teilen. Er hat sie nur als Lockvogel missbraucht, und wäre sie noch länger bei ihm geblieben, wäre aus ihr wohl eine Bordsteinschwalbe geworden. Bei mir hätte sie es gut, doch sie sieht in mir leider nur den guten Kumpel. Aber vielleicht … wenn ich genügend Eindruck bei ihr mache?
Ich spähe über die Promenade hinweg und sehe ein Ehepaar, das sich mit eingezogenem Genick, die Arme vor die Brust gepresst, zu einem der aufgereihten Strandkörbe schleicht. In typischer menschlicher Beuteschutzhaltung. Mein Jagdinstinkt ist geweckt. »Seht ihr das Paar, das sich da vorne im Strandkorb verstecken will?«
»Die haben Crêpes in der Hand«, murmelt Suzette, und ich kann förmlich sehen, wie ihr das Wasser im Schnabel zusammenläuft. »Ich glaube, das hat noch keine der Reviermöwen gesehen. Du bist wirklich ein toller Späher, Ahoi.«
Ich spreize die Flügel. Das geht runter wie Öl.
Doch Jonathan winkt ab. »Da ist kein Drankommen. Die gehören zur seltenen Spezies der cleveren Menschen und schirmen ihre Nahrung vor uns ab. Das sollten wir nicht riskieren.«
»Harry könnte der Angriff gelingen«, widerspricht Suzette. »Der ist so stark und geschickt.«
Okay, der Stachel sitzt. Ich hebe ab, noch bevor die beiden irgendetwas sagen können. Mit stolz gerecktem Kopf, die Füße eng am Körper, stürzte ich mich heldenmutig in die Tiefe.
Eine Schnabellänge von meinem Ziel entfernt sehe ich aus dem Augenwinkel, wie sich zwei Möwen scheinbar aus dem Nichts auf mich stürzen. Autsch, so wurden mir noch nie die Federn gelesen. Ich gebe mich tapfer, picke auf meine Gegner ein, weil ich Suzettes Blicke auf mir spüre. Das gibt mir Kraft. Yeah, ich gewinne den Oberflügel und bekomme die Serviette um den Crêpe zu fassen, doch dann katapultiert mich eine Menschenhand aus der Angriffszone.
Ich sehe aus wie ein gerupftes Huhn, als ich zu Jonathan und Suzette zurückkehre. Ich spucke das Papier aus und würde am liebsten im Erdboden versinken.
»Das war ganz schön mutig«, sagt Suzette und hilft mir, meine Federn zu sortieren. So könnte ich ewig stehen bleiben.
Balthasar landet ziemlich zerknirscht neben uns auf dem Dach, und prompt vibriert sein Gefieder. Er ignoriert es in der Hoffnung, dass wir es nicht bemerken. Wenn er das Handy in den Flügel genommen hätte, ich hätte es in die Tiefe geworfen.
»Wegen diesem Scheißteil hast du uns ein Manöver versaut!«
»Ach, jetzt bin ich schuld, oder was? Weil du nicht richtig gespäht hast? Dann hättest du nämlich die Möwen gesehen, die hinter dem Strandkorb lauerten.«
»Und du hast sie gesehen, du Schlaumeier, ja?«
Jonathan räuspert sich. »Ähm, vielleicht solltet ihr lieber aufhören zu streiten, weil … ahhhh«, kreischt er und entkommt nur durch einen beherzten Sprung in die Dachrinne einem Angreiferschnabel. Schiet, die haben es jetzt echt auf uns abgesehen. Zehn oder zwölf von diesen Gangstern fliegen in hohem Tempo hinter uns her, bis wir die Reviergrenze verlassen haben und uns wieder nördlich der Stadt befinden. Keiner mehr hinter uns. Das ist gerade noch mal gut gegangen.
Keuchend lassen wir uns auf Schwert, Kopf und Schild des steinernen Roland nieder, der auf einer begrünten Insel mitten auf der Straße steht.
Von Weitem sehe ich eine Möwe auf uns zufliegen, und ich will schon Alarm schlagen, da erkenne ich unseren Grey. Der ist trotz seiner jugendlichen Leistungsfähigkeit völlig außer Atem, setzt sich jedoch nicht hin, sondern bleibt wild flügelschlagend neben uns in der Luft stehen.
»Ich war gerade in Hörnum. Ey, wisst ihr, was totale Schei… ich meine, totaler Möwenschiet ist? Knut ist immer noch nicht am Stand angekommen, und ich hab auch sein Auto weit und breit nirgends gesehen. Also bin ich noch mal zu ihm nach Hause geflogen und hab zum Fenster reingeschaut, ob er wirklich nicht da ist. Alter Falter, ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es da drin aussieht! Als ob jemand eingebrochen hätte. Vielleicht liegt er ja tot in seiner Wohnung, und der Einbrecher hat sein Auto geklaut?«
»Ach du Scheiße«, sagt Jonathan, dem es schon schlecht wird, wenn er nur einen Tropfen Blut sieht.
»Wir sollten uns das näher betrachten«, überlege ich laut.
»Vielleicht gibt es irgendwo ein geöffnetes Fenster«, sagt Suzette.
»Vielleicht erst mal was essen?« Jonathan seufzt. »Nachher hab ich garantiert keinen Hunger mehr.
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