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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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um gierig seinen Geruch einzusaugen. Als die Laken vor Schmutz starrten, hörte sie auf, daran zu schnüffeln, aber sie wusch sie auch nicht, weil sie jedes Mal an ihren Bruder denken musste.
    Der Platz war voller Frauen und Kinder, die sich in Gruppen um die Betten drängten. Ehefrauen, Mütter, Schwestern. Die Schwestern: die kleinen Nachbarsmädchen, die die Erwachsenen nachahmten, indem sie ihre Haare in zwei Büschel packten und den Kopf nach rechts und links wiegten. Ich konnte auch den buckeligen Stoffverkäufer mit der hohen Frauenstimme ausmachen, der den kleinen Mädchen in seinem erbärmlichen Französisch Liebeslieder vorsang, bevor er ihnen, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, in die Schenkel zwickte. Ich sah auch einen weinenden Priester. Aber ich sah keine Spur von den Männern, außer jenen, die in Sonntagstracht auf den Betten lagen, die Mienen für immer erstarrt. Ich erblickte eine Frau, die ich in unserem Viertel noch nie zuvor gesehen hatte, groß und weiß, sie ging von Bett zu Bett, setzte sich neben die Toten, richtete ihnen die Krawatten, schob eine in die Stirn gefallene Haarsträhne zurück oder wischte einen Blut- oder Schmutzfleck von der Wange, bevor sie lange in die Gesichter schaute und dann ihren Rundgang fortsetzte.

II
    Elia ist der Sohn unseres Viertels, des »Issâba«-Viertels. Wir Kinder sprachen es voller Stolz mit I am Anfang aus, so dass es die Bedeutung von »Banden«-Viertel bekam. Auf den Personalausweisen der Menschen, die am Tag der unerwarteten Volkszählung im Jahre 1932 dort wohnhaft gewesen waren, ist es als das »Westviertel der Jungfrau« eingetragen. An jenem Tag hatte sich ein obskurer Beamter im Innenministerium darangemacht, das Dorf in fünf Viertel zu unterteilen, die für uns allerdings keinerlei Bedeutung hatten und an deren ungewöhnliche Grenzverläufe wir nur an den Wahltagen erinnert wurden. Elia besaß eine von allen anerkannte Immunität im Viertel. Wenn man ihn im Streit zu Boden stieß oder von weitem mit Steinen bewarf, konnte man vor den Konsequenzen dieser Attacken nicht sicher sein. In Wahrheit besaß allerdings nicht nur er alleine eine solche Immunität, sondern wir wussten, dass er sich diese besondere Behandlung mit anderen Jungen aus Familien teilte, von denen es hieß, »die haben mit Blut bezahlt«. Für uns aber, von denen kein Angehöriger ermordet worden war und die wir weiterhin von unseren Eltern verwöhnt wurden, galt das Gesetz der Allgemeinheit. Nicht zu Unrecht wurden wir also für das Versäumnis und die Zurückhaltung unserer Eltern beschimpft oder sogar hart bestraft. Widersetzte sich aber einer von uns Elia – wie oft rangen wir miteinander, schleuderten uns gegenseitig Beleidigungen an den Kopf und bewarfen uns mit Steinen, und wie oft setzten wir dafür unsere Muskeln und Körper ein –, dann suchte seine Mutter Kâmleh den Dreisten unverzüglich zu Hause auf, kaum dass Elia nach einigem Zögern und weinend dessen Namen preisgegeben hatte. Natürlich verriet Elia den Namen seines Peinigers aus Ehrgefühl erst, wenn die ihm zur Verfügung stehenden Mittel, selbst Rache zu nehmen, erschöpft waren. Vielleicht war ihm bewusst, dass ihm, wenn er sich immer wieder auf sein »Privileg« berief, kein Freund oder Unterstützer unsererseits geblieben wäre. Mit böse funkelnden Augen stürmte Kâmleh dann los, die Haarspange im Mund, das Haar hinten zusammenbindend. Nachdem einige von uns dem Schuldigen »zur Flucht« hinunter zum Fluss verholfen hatten, liefen wir lärmend und jubelnd neben ihr her. Am Haus des Jungen angekommen, blieb Kâmleh, die Hände in die Hüften gestemmt, an der Haustür stehen.
    – Wenn du ihn nicht erziehst, muss ich ihn wohl erziehen …, schrie sie der Mutter des Buben entgegen.
    Gemeinhin pflichtete die Frau ihr dann bei und versprach, »diesen Teufelskerl« zu bestrafen, doch sobald Kâmleh ihr den Rücken gekehrt hatte, zwinkerte sie einer Nachbarin verschmitzt zu.
    Elia gehörte zu den wenigen Kindern, die in jenen Tagen, Ende der sechziger Jahre, eine dicke Brille trugen.
    – Er ist von »schwacher« Gesundheit!, hatte seine Mutter einst ihr Urteil gefällt, ohne dass es vorher zu nennenswerten Vorkommnissen bezüglich seiner Gesundheit gekommen wäre. Also zwang sie ihm stets – nach langem Widerstand – eine zusätzliche Jacke oder einen Wollpullover auf, dessen Kragen seinen Hals bis zu den Ohren hinauf umschloss, während seine Kameraden mit ihren kurzärmeligen Hemden prahlten,

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