Morgen des Zorns
wie sie die feuchten und gewundenen Gassen des Viertels noch nie vernommen hatten. Viele Passanten blieben stehen, um zu lauschen. Obwohl er anfangs für die verblüffte kleine Menge eine Melodie spielte, die ein jeder aus dem Rundfunk kannte – »Besucht mich einmal jährlich« 3 –, wurde ihnen, als sie ihn daraufhin leidenschaftlich unbekannte westliche Melodien spielen hörten, mit einem Mal bewusst, dass sie sich vergebens um ihn bemüht hatten, denn Elia hatte ihre Welt bereits verlassen. Er hatte die Ufer des Flusses hinter sich gelassen, die Pflaumen und die Mispeln, die sie gestohlen hatten, sobald sie reif waren, und die Spiele, bei denen sie ihre Geduld auf die Probe gestellt hatten. Er hatte diese Welt unwiederbringlich verlassen, war in eine andere Sphäre, eine ihnen unbekannte Sphäre hinübergewandert, und einige hatten gar das Gefühl, Elia habe sogar ihre Namen vergessen.
Aber Elia hatte sich nicht aus Sorge um seine Zukunft verändert, wie seine Mutter sich gewünscht hatte, und nicht aus Überheblichkeit, wie man hätte annehmen können, sondern er schien stattdessen jetzt ganz einfach mit anderen, bedeutenderen Dingen beschäftigt zu sein. Wie hätte er zum Beispiel sonst den ersten Preis im französischen Gedichtwettbewerb in der Schule gewinnen können? Sie hatten ihn auf einem Foto im »Telegraph« entdeckt, auf dem er von den Organisatoren des Wettbewerbs einen auf einem Bein stehenden, glänzenden Metallvogel mit ausgebreiteten Flügeln entgegennimmt. Sie selbst aber waren so roh und ungebildet geblieben wie ihre Väter. Wenn sie auf der Straße über einen Stein stolperten, verfluchten sie die Heiligen und die Toten, und wenn ihnen ein Passant einen musternden Blick zuwarf, hielten sie ihn an, um ihn in bedrohlichem Ton zu fragen, was er wolle … Von nun an verzichteten sie darauf, Elia zu ihren Spielen einzuladen oder ihn zu provozieren.
Als der Krieg ausbrach, lag Elias Schule ganz in der Nähe der Demarkationslinie.
– Das Schicksal hat uns schon einmal übel mitgespielt, es reicht …, sagte Kâmleh entschieden.
Sie wollte ihren Sohn für eine Weile von Beirut fernhalten und in die Sommerfrische der Berge bringen, wo der Orden ihrer Cousine ein Kloster betrieb. Auf dem Weg dorthin fielen sie einer bewaffneten Straßensperre in die Hände. In dem Gedränge der unzähligen Autos und aus Unwissenheit über die Region, durch die sie fuhren, wussten sie nicht, ob die Bewaffneten Christen oder Muslime stoppten. Aber Kâmleh schluckte ihre Angst hinunter und übergab Elia der Nonne im Kloster. Weil der Krieg sich jedoch immer weiter in die Berge hinauf ausbreitete und die Bomben dem Kloster immer näher rückten, verbrachte der Junge nur zwei Nächte dort. Danach stellten ihm die Nonnen ein Bett im Keller auf, wo er schlafen könne, bis Kâmleh ein weiteres Mal herbeieilte und ihn zu sich zurückholte, nach Hause ins »Banden«-Viertel. Von Beirut aus hatten sie sich über gewundene Bergpfade ins Dorf durchgeschlagen.
Nun verbrachte Elia einen Zwangsaufenthalt bei uns im Ort, doch wieder blieb er nicht lange, da die Gefahren ihn schon allzu bald auch hier einholen würden. Wie durchsickerndes Wasser machte sich der Krieg überall breit. Zuerst in Form nicht enden wollender Gerüchte über einen kurz bevorstehenden Angriff, für den die Gegenseite Kämpfer verschiedener Nationalität und Hautfarbe mobilisiert hatte. Dann wurden Barrikaden aufgebaut, und Jugendliche in Kampfanzügen steuerten paramilitärische Jeeps durch die Straßen, auf denen Slogans aus Kriegen von vor tausend Jahren geschrieben standen. Da fasste Kâmleh den schwersten Entschluss ihres Lebens.
– Er muss ins Ausland, in Gottes weites Land. Einer ist schon gestorben, der zweite darf nicht auch noch sterben.
Sie nutzte eine Feuerpause, um die Abreise zu organisieren. Sie packte seine Koffer, stopfte Pullover, Hemden und Unterwäsche hinein, bis er doppelt so schwer wog wie erlaubt. Sie musste mit dem Inhaber des Reisebüros verhandeln, welcher einige Verantwortliche am Flughafen kannte, damit man ihn nicht mit der Zahlung von Übergepäck bestrafte. Niemand wusste, mit welchem Trick Kâmleh es gelungen war, Elia in die Abflughalle zu begleiten und von dort zum letzten Kontrollposten, wo sie sich mit den Männern vom Zoll zankte, damit sie ihrem Sohn nichts abnahmen. Muntaha hatte sie begleitet und erzählte später im Viertel, dass Kâmleh die ganze Zeit derart mit Elias Koffern und Reiseproviant beschäftigt
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