Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
zu Hause ins Reine und versah sie mit Anmerkungen.
Sie hatte die gehefteten Blätter genommen, mir höflich gedankt, blendend weiße Zähne und ein Blitzen ihrer hellblauen Augen präsentiert. Dann war sie mit ihren Freundinnen in der Mensa untergetaucht.
Ich hatte ihr nachgeschaut.
Wie es sich ergab, dass ich beim Mittagessen neben ihr saß, weiß ich nicht mehr. Ich schaufelte Schnitzel mit Pommes in mich hinein, sie stocherte gedankenversunken in welkem Salat. Um uns herum Stimmengewirr.
Plötzlich sah sie mich an. »Was ist Dein Thema?«
Meine Gabel stoppte auf halber Höhe zum Mund. »Wie bitte?«
»Dein Thema. Für die Seminararbeit.«
»Ach so. Ich werde Stolzenberg analysieren.«
»Diesen Labersack. Blabla, mehr kann er nicht.«
»Wenn man ihn seine Texte vorlesen hört, beginnen sie zu leben«, verteidigte ich den Newcomer unter den Münchner Schriftstellern. Der Mittdreißiger hatte kurz hintereinander drei Bücher veröffentlicht, die polarisierten und in den Feuilletons ausführlich besprochen wurden. »Aber er hat einen sehr eigenen Stil, das gebe ich zu.«
»Laaangatmig. Schlimmer als Proust«, maulte sie.
Ich lachte. »Schlimmer als Proust geht nicht.«
Statt in die nächste Vorlesung gingen wir an diesem Tag in den Englischen Garten, spazierten am Eisbach entlang, tranken Kaffee. Wir redeten über dichter und deren Werke, analysierten, interpretierten und stellten wilde Thesen zu Schriftstellern und deren Protagonisten auf.
»Schreibst du?«, fragte sie plötzlich.
»Hm. Nein. Ich verstehe was von Literatur, aber ich kann nicht schreiben. Ist das schlimm?«
»Nein, natürlich nicht. Aber das Handwerk des Schreibens, das solltest du lernen. Es hilft dir, wenn du nachvollziehen können willst, wie Texte entstehen, oder zu beurteilen hast, ob und wie sie zu verbessern sein könnten. Schreibst du nicht hin und wieder selbst, kennst du das Gefühl nicht, wenn die Story zu leben beginnt. Und den Frust, dass sie es nicht tut, obwohl du engagiert daran feilst. Auch das Verwerfen und Neuanfangen gehört zum Schreiben, verstehst du?«
Ich nickte nachdenklich.
»Am Wochenende findet ein Schreibworkshop statt«, insistierte sie. »Ich werde hingehen. Was ist mir dir? Es sind recht gute Autoren eingeladen, dazu ein paar Verlagsmenschen. Könnte interessant werden.«
»Wäre eine Überlegung wert. Weißt du Näheres? Wo es ist, was es kostet?«
»Irgendwo am Starnberger See, in einem Seminarzentrum. Man kann dort auch übernachten. Organisiert wird das Ganze von einer kirchlichen Organisation. Frag mich bitte nicht, welcher. Katholisch, denke ich. Es ist kostenlos für Studenten, man muss nur das Essen bezahlen. Hey, da juckt doch nicht, wer es veranstaltet, oder? Ich meine, solange ich nicht bekehrt werden soll?«
Sie warf den Kopf zurück, schloss die Augen, lachte. Ihre Haare leuchteten golden in der Sonne. Sie war wunderschön.
Wir brachen auf, als die Glocken der nahegelegenen Kirche viermal schlugen. Vorlesungsende. Gemeinsam schlenderten wir zur U-Bahn, wo wir uns verabschiedeten.
»Äh ... Wie heißt du eigentlich?«
»Jessica.«
»Christian.«
»Ich weiß.«
»Äh, na dann ... Man sieht sich.«
»Ja. Morgen.«
Wir fuhren zusammen nach Tutzing. Ich holte sie am Freitagnachmittag mit dem Wagen bei ihr zu Hause ab.
Sie lebte mit einer Freundin in einer Altbauwohnung im Westen Münchens. Die knarrenden Holzböden und hohen Stuckdecken strahlten Gemütlichkeit aus, ebenso wie die bunten Sitzkissen, die im Wohnzimmer verteilt waren. An den Wänden hingen Aquarelle und ein riesiger Flachbildschirm, von irgendwoher klang Musik. Didgeridoo. Im Treppenhaus ächzten ausgetretene Stufen und ein geschnitztes Geländer, Buntglasfenster machten ein surreales Licht.
Alles fühlte sich warm an, stimmte, harmonierte.
Thea freute sich darüber, dass ich Anschluss gefunden hatte, und erklärte, dass es ihr recht sei, einige Tage nicht kochen zu müssen und die Füße hochlegen zu können.
Dass es sich bei meiner Bekanntschaft um eine Frau handelte, erzählte ich nicht.
In Starnberg hielten wir an, parkten am Bahnhof und schlenderten die Seepromenade entlang, die unmittelbar hinter den Gleisen begann. Wir aßen trotz der Kälte Schokoladeneis und machten uns über Pelz tragende Flaneure und streitende Paare lustig. Wir lachten viel, waren ausgelassen, genossen die winterliche Stimmung.
Pünktlich zum Abendessen kamen wir im Seminarzentrum an, wo sich die anderen Teilnehmer
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