Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
Herkunft ich noch immer nicht kannte, ein netter Mensch; sie sorgte sich um mich, um den Haushalt, um den Garten. Sie kochte, backte, putzte, kümmerte sich um die Wäsche. Sie war wie ... Ja, wie eine Mutter. Eine Mutter, wie ich sie nie hatte, mir immer gewünscht hatte. Eine, die Emotionen und Empathie zeigte, Zuneigung vermittelte. Ich mochte diese Fremde, hatte mich an sie gewöhnt, fühlte mich wohl bei dem Gedanken, dass sie da war, wenn ich nach Hause kam.
Sie schien alles über mich, meine Eltern, über unser Leben zu wissen. Woher? Ich wollte mit ihr darüber reden, doch ich fand nie den Mut. Was mich abhielt, die naheliegenden Fragen zu stellen, war mir nicht klar. Sie hatte etwas an sich, das es mir unmöglich machte. Ich wäre gern der coole Typ gewesen, der sich, lässig an die Wand gelehnt, eine Zigarette zwischen den Zähnen, erkundigen würde, wie lange sie zu bleiben gedachte. Warum sie hier war. Und was sie wusste.
Ich war dieser Typ nicht, und das quälte mich.
Sie spürte, wenn das, was in mir arbeitete, kaum noch zu unterdrücken war, wenn der Druck zu groß wurde, ich mich straffte. Dann sah sie mich nur an. Sagte kein Wort. Wartete.
Der Moment kam, ich holte Luft, schaute auf, blickte in ihre Augen - und senkte die Lider. Atmete aus. Sank in mich zusammen.
Es war kein Spiel. Es war ein Kampf. Und ich hatte ihn von Beginn an verloren.
6. Kapitel
Das Wintersemester begann, und mit ihm kehrte die Regelmäßigkeit zurück, die das Leben ordnet und beruhigt.
Ich nahm ganz selbstverständlich das Auto, kaufte auf dem Rückweg von der Uni ein, jobbte mittwochs und donnerstags von Mittag bis Ladenschluss in der Buchhandlung. Kam ich abends nach Hause, warteten ein warmes Essen auf mich und der Fernsehsessel. Hatte ich nachmittags frei, lernte oder las ich, auf dem Sofa liegend, oder surfte im Internet, während ich Thea irgendwo werkeln hörte. Sie war ständig beschäftigt, nie sah ich sie tagsüber ein Buch oder die Zeitung lesen.
Jeden Tag beim Essen fragte sie mich, was ich erlebt und erfahren hatte, wie ich Sachverhalte beurteilte, zu politischen und gesellschaftlichen Ereignissen stand. Ich wurde lockerer, selbstsicherer, offener.
Mit ihrer Hilfe bereitete ich ein Referat vor, das mir großen Beifall meiner Kommilitonen einbrachte und ein anerkennendes Nicken des Doktoranden, der das Seminar leitete. Ich ergriff öfter als noch im vergangenen Semester und in allen davor das Wort, beteiligte mich an Gesprächen und Debatten. Ich nahm mich einiger Erstsemester an, erklärte ihnen Abläufe, gab Tipps und Ratschläge. Dankbar luden sie mich auf ein Bier in die Kneipe zwei Querstraßen von der Uni entfernt ein. Ich lehnte ab.
Meine Mutter hatte mich spätestens zur Tagesschau erwartet. Verspätete ich mich, weil ein Dozent ein Abendseminar überzog oder sich an eine Lesung eine Diskussion anschloss, die mich fesselte, bekam ich Ärger.
Thea musste meine Unsicherheit, meinen inneren Konflikt gespürt haben, denn sie sprach mich eines Abends an: »Warum gehst du nicht mal weg? Such dir Freunde, geh ins Kino oder was auch immer junge Leute so tun. Ich kann dir nun wirklich kein Ersatz sein für Unterhaltungen mit deinesgleichen und Gleichaltrigen.«
»Das wird dann aber ziemlich spät. Ich meine, bis ich hier bin ... Der Zug fährt nachts nur noch stündlich«, glaubte ich, mich verteidigen zu müssen.
»Na und? Du bist doch kein Teenager mehr! Freitags einen draufmachen, tut man das nicht als Student?« Sie nickte mir aufmunternd zu.
»Vermutlich«, murmelte ich.
»Gib einfach Bescheid, ruf kurz an, dann weiß ich, dass ich nicht auf dich warten muss.«
Damit war das Thema erledigt. Ein Dogma, das jahrelang Bestand gehabt hatte, war plötzlich keines mehr.
Ich schaute aus dem Fenster hinaus in die Abendröte und fühlte mich großartig. Ich war ... frei!
7. Kapitel
Mitte Dezember lernte ich ein Mädchen kennen. Eigentlich kannte ich sie schon länger, sie war mir bereits vor mehr als einem Jahr aufgefallen. Sie saß in den Vorlesungen meistens am selben Platz in der dritten Sitzreihe am Fenster. Ihr halblanges, blondes Haar strich sie mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks mit dem Daumen aus der Stirn.
Ich hatte mich nur ein einziges Mal mit ihr unterhalten, vor einigen Monaten. Es ging um ein Skript, das ich für sie kopieren sollte. Meine Notizen waren begehrt bei meinen Kommilitonen, denn ich schrieb nicht nur mit, sondern tippte meine Aufzeichnungen
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