Morgenroetes Krieger
Innenverwandten sich ihrerseits verweben. Genau hier in Plenkhander .“ Sie schaute durch das Dämmerlicht zu den Bäumen hinüber, von denen gli t zernde Regentropfen fielen. Der Geruch des Meeres fül l te die Luft, und vom Strand, nur ein paar Häuserzeilen weiter, tönte das regelmäßige Schlagen der Brandung, die auf den braunen Sand rollte.
„Es ist schwer, sich das auszumalen“, sagte Han.
„Für dich vielleicht – nicht für mich.“
Sie wanderten ostwärts, überquerten die alte Steinbrücke und kamen nach ein paar hundert Metern an eine niedrige Mauer, die von wildem Wein überwuchert war. Der yos lag tief im Dunkel riesiger Bäume, erleuchtet von mehr e ren Laternen, die an der Eingangstür hingen. Als sie den Garten betraten, läutete Liszendir eine riesige Tonglocke, die einen weichen, tiefen Ton von sich gab. Gleich d a nach rannte ein kleines Kind aus dem yos, offensichtlich der ältere Außenverwandte, der nerh, doch welches G e schlecht er hatte, konnte man so nicht sehen. Er war nach Hans und Usteyins Schätzung ungefähr drei bis vier Ja h re alt. Hinter ihm tauchte eine Frau auf, die im Schein der Laternen stehenblieb und auf sie wartete. Sie war klein und dunkelhaarig, nett im Aussehen, aber keine Schö n heit. Als sie nähertraten, sah Han, daß sie vom vielen Waschen gerötete Hände hatte; es waren kräftige, gesu n de Hände, die zupacken konnten. Sie mochte vielleicht fünf Jahre älter als Liszendir sein.
Während das Kind um sie herumlief und neugierig Usteyins Haare bestaunte, umarmte das Mädchen Li s zendir, drückte die Neue kurz an die Wange und wandte sich dann, schüchtern lächelnd, an die anderen. Han u n terdrückte ein Lachen; ihr fehlte ein Zahn. Aber dennoch bekam ihr Gesicht dadurch einen gewissen Charme, der durchaus nichts Lächerliches an sich hatte. Ihr Gesicht war ebenmäßig wie das von Liszendir, nur etwas schmaler und ovaler sowie mit etwas dunkleren Haaren. Sie hatte einen weichen, vollen Mund und klare, direktblickende Augen wie die Farbe des Regenwassers.
Sie sagte: „Ich bin Hvethmerleyn. Es tut mir leid, daß ihr nicht den kadh, den Erstvater, antrefft, aber er ist noch immer auf dem Weingut und wird auch wahrschei n lich noch einige Tage fortbleiben.“ Sie hatte eine klare, reine Stimme, wobei sie das „ hv“ ihres Namens leicht aspirierte und so eine gewisse undefinierbare Anziehung und Attraktion erhielt. „Wollt ihr nicht über Nacht ble i ben? Dies ist ein besonderes Ereignis, und es wäre schön, wenn ihr uns ein wenig Gesellschaft leisten würdet. Wir haben nur sehr selten Besucher. Es würde mich freuen.“
So gingen sie dann alle zusammen in den yos unter den Bäumen und verbrachten den Abend mit Essen, Trinken und der Erzählung ihrer Geschichte, der Hvethmerleyn mit Interesse und gedämpfter Heiterkeit folgte. Han ließ einige Sachen aus, aber weder Liszendir noch Usteyin korrigierten ihn. Und als der Abend schon weit fortgeschritten war, bemerkte er, daß sich die beiden Frauen füreinander zu erwärmen begannen und zune h mend vertraulicher und intimer wurden. Wie es für Li s zendir sein würde, das wußte Han in groben Zügen, aber was Hvethmerleyns Rolle anbetraf, so konnte er sie sich kaum vorstellen: das ganze Leben mehr oder weniger mit einem Manne verbracht, und dann sucht man selbst für ihn eine zweite Partnerin, bringt sie ins eigene Haus, in die eigene Familiengemeinschaft … Er versuchte, es nachzuempfinden – unmöglich.
Sie erfuhren, daß der Name der Webe Ludhen war. Ludh bedeutete „Wein“ in der Single-Sprache! Sie waren Weinbauern! Hvethmerleyn lachte ein warmes, herzl i ches Lachen, und Han, der inzwischen mit vielen Ch a rakterzügen und Eigenarten der Ler vertraut war, sah für einen Moment lang, daß Hvethmerleyn nach Ler-Maßstäben äußerst warmherzig und sinnlich war. Sie war genau das, was Liszendir brauchte, zumal er schon lange den Verdacht hatte, daß Liszendir selbst in ihrem Leben etwas Bestimmtes vermißte. Sie war höchst erfreut da r über, daß Han die Bedeutung des Single-Wortes erkannt hatte, und bestand darauf, daß er und Usteyin als Erinn e rung eine Flasche Wein annahmen. Dann sprachen sie noch über den Erstvater, ihren Innenverwandten, der den Namen Thriandas trug.
Hvethmerleyn hatte anscheinend den Verdacht, daß seine Erklärung, noch auf dem Weingut arbeiten zu mü s sen, lediglich ein Vorwand war, um für sie selbst einen passenden männlichen Außenverwandten aufzutreiben.
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