Morgenroetes Krieger
jeweiligen Begleitumständen, so bede u tungsvoll wie die von primitiven Stammesangehörigen sein – oder völlig bedeutungslos, weit bedeutungsloser als die unsrigen –, denn es gehört zu den Gebräuchen der Ler, daß kein Kind nach einer anderen Person benannt wird. Die Namengebung erfolgt so individuell wie mö g lich. Wenn ein Name zufällig doppelt auftaucht, dann wirklich rein zufällig. Kein Ler würde wissentlich einen Namen wiederholen, schon gar nicht einen, der in der Heimatregion vorkommt.
Durch die geheime Natur des „Aspekts“ (plozos) des Individuellen – ein ritueller Teil der Ler-Kultur – und die Relation des „Aspekts“ zu der Teilbedeutung von immer vier möglichen Bedeutungen jedes Stammworts kann die wahre Bedeutung eines Namens erst bestimmt werden, wenn man den „Aspekt“ kennt. Innerhalb der Webe sind diese Dinge natürlich bekannt, wenn auch nicht offen über sie gesprochen wird, so daß hier der Name durchaus dazu dienen kann, Grundzüge des Charakters aufzuze i gen. Ein Ler, dessen Name „ Feuerfressender-Teufel “ (Pangurtron – unter dem Feuer [Panh] -Aspekt) lautet, wird tatsächlich einen Hang zu Aggressivität und Unve r nunft aufweisen, und andere werden in gleicher Weise durch die Attribute ihres Namens geleitet. Außerhalb der Webe jedoch ist dies anders; der „Aspekt“ wird nicht j e dem verraten, sondern nur in Verwebungszeremonien o f fenbart, und ohne eine besondere Aussprache, in der die jeweilige Bedeutung angesprochen wird, ist jede Überse t zung von Ler-Namen illusorisch. Im Falle des Ler-Mädchens Liszendir wußte kein Ler außerhalb ihrer G e burtswebe ihren Aspekt oder die Bedeutung ihres N a mens, bis sie von Hvethmerleyn für die Ludhen-Webe (Klanludhen) akzeptiert wurde. Daß sie dem Menschen Han zuerst sagte, was ihr Name bedeutete, und später, daß Feuer ihr Aspekt war, kann als Maß ihrer Gefühle für ihn angesehen werden, denn aus ihrer Sicht war diese Offe n barung eine bedeutsame Opfergabe. Da Silben innerhalb eines Namens nicht wiederholt werden und alle drei Teile dem gleichen Aspekt zuzuordnen sind, ist die Zahl mögl i cher Interpretationen glücklicherweise be grenzt, gleic h zeitig aber zu hoch für Spekulationen im Rahmen der Gesetze der Wahrscheinlichkeit, selbst für einen Ler. Konsequenterweise wurde ein beträchtlicher gesellschaf t licher Zeitaufwand betrieben, um den Aspekt von Ang e hörigen und Freunden (von Liebenden gar nicht zu r e den) einzugrenzen; eine Praxis, die mit gleichermaßen angestrengten Versuchen gekontert wurde, die Ve r schleierung voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund mögen einige Handlungen von Liszendir erklärbarer e r scheinen.
Liszendirs Name, „(Feuer) Samtgestreichelte-Nacht “ trägt Obertöne der Abstraktion und Distanz in zw i schenmenschlichen Beziehungen, und tatsächlich war sie eher kühl und abweisend, eher intellektuell als emotional. Da sie in etwa die gleichen Liebhaber hatte wie jedes andere durchschnittliche Ler-Mädchen , hatte sie nicht das erlebt, was in ihren eigenen Augen eine große, le i denschaftliche Liebesbeziehung gewesen wäre, und füh l te deshalb eine gewisse Leere. Sie wußte nur zu gut, daß Menschen den Ler-Gebräuchen in bezug auf Vornamen nicht folgten, aber aus Gewohnheit oder Langeweile konnte sie es nicht lassen, hin und wieder ein kleines Wahrsagespiel mit Hans Namen zu versuchen, so wie sie es in vertrauter Umgebung angestellt hätte. Dies wurde mehr als nur interessant, wenn man bedenkt, daß Hans voller Name Han Keeling lautete. Wenn man die Endung ng auf n verkürzt, entsteht – zufällig oder von unbekan n ter Hand so geplant – ein akzeptabler Ler-Name in der Single-Sprache: Hankiellin. Liszendir hatte schon immer vermutet, daß Han stark gefühlsbetont sei und damit in den Bereich des Wasser-Aspekts fallen könnte (vergle i che die Tarot-Symbolik). Wenn dies seine Richtigkeit hatte, würde Hans Namen in der Reihenfolge der Stammwörter in etwa mit „Letzte-leidenschaftliche-Begegnung“ zu übersetzen sein. Alles in allem war dies in der Tat eine erschreckende Botschaft, die sich aus u n beabsichtigtem Herumspielen mit der Wahrsagerei erg e ben hatte.
M. A. Foster
Nachwort
Michael Anthony Foster – nicht zu verwechseln mit se i nem Namensvetter und Kollegen Alan Dean Foster – wurde 1939 in Greensboro/North Carolina geboren. Er studierte Russisch, hielt sich ein Jahr lang in Europa auf und schloß sein Studium schließlich mit einem
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