Mortimer & Miss Molly
Medizinstudium im Mai abgeschlossen. Im September sollte er ein Turnusjahr antreten. An irgendeinem Krankenhaus in einer Stadt in der Region Piemont.
Er machte allerdings nicht den Eindruck, dass er das wirklich wollte. Seine Mutter wollte es. Und das war offenbar sein Problem. Er hatte zuerst etwas anderes studiert (Vergleichende Literaturwissenschaften oder so etwas Ähnliches), doch seiner Mutter zuliebe habe er umgesattelt, und das hatte er nun davon.
Er hatte die Abschlussprüfungen, die er als Mediziner machen musste, möglichst lang hinausgezögert. Doch jetzt war es so weit, es gab keine Ausreden mehr. Und wenn nicht ein Wunder geschah ... na ja, Arzt war ja kein schlechter Beruf ... Bloß war es nicht der, zu dem er sich berufen fühlte.
C
’
est comme ça
, sagte er, aber lassen wir das. Davon wollte er nicht mehr reden an einem so schönen Tag wie diesem.
Carpe diem
, sagte er, heute ist heute. Und was morgen ist, werden wir schon sehen, hab ich nicht Recht?
Oui
, sagte Julia. Was sollte sie sonst sagen? Sie saß auf dem Beifahrersitz neben ihm, sie fühlte sich wohl. Wenn sie zu ihm hinüberschaute, sah sie sein Profil. Es erinnerte sie an irgendjemanden, aber sie wusste noch nicht, an wen.
Sie fuhren auf der Via Cassia, die, wie die meisten alten italienischen Staatsstraßen, nach einem altrömischen Senator benannt war, nach Süden. Sie hatten kein konkretes Ziel, sie fuhren ins Blaue. Das heißt: Der Himmel war blau – die Landschaft darunter war ocker, gelb und grün. Die Landschaft lag offen vor ihnen. Ein Hügel hinter dem anderen. Eine verführerische Landschaft. Sie verführte erstens dazu, immer wieder von der Hauptstraße abzuzweigen. Auf Sandstraßen, die meist vielversprechend begannen, aber dann oft im Nichts endeten. Sie verführte zweitens dazu, immer wieder auszusteigen und zu fotografieren. Und das tat Marco, der seine
Minolta
dabeihatte, leidenschaftlich gern.
Die Landschaft brachte einen drittens auf schöne Gedanken. Jedenfalls einen wie Marco, der auf poetische Weise von ihr schwärmte. Wie es sich hebt und senkt, dieses Land, sagte er, erotisch. Vom Wind gekämmt und vom Wind zerzaust.
Auf Französisch klang das womöglich noch besser. Oder sagte er es auf Italienisch?
Jedenfalls klang es ein wenig wie ein Gedicht.
Stimmt, sagte Marco. Das habe er irgendwo gelesen.
Natürlich fotografierte er nicht nur die Landschaft, sondern auch Julia. Zum Beispiel am Rand eines alten Brunnens, auf dessen Grund sie ihr Spiegelbild suchte. Oder inmitten einer Herde von Schafen, deren Wolle sie zupfte. Oder laufend, mit fliegenden Haaren, in einer von Pinien gesäumten Allee.
Das war hübsch, und die Komplimente, die er ihr zwischendurch machte, brachten sie immer wieder zum Lachen. Doch auf die Dauer war es auch etwas strapaziös. Schluss jetzt,
basta
, sagte sie und ließ sich in den Schatten einer Steineiche fallen. Und das fotografierte er zwar auch noch, wie sie dalag mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen, aber dann hängte er die Kamera an einen Ast und legte sich zu ihr.
La belle au bois dormant
, sagte er – nun ja, das war wohl etwas übertrieben. Nicht nur was Julias Schönheit betraf, die sie bis dahin eher realistisch eingeschätzt hatte. Weit und breit kein Wald, sondern eben nur diese Steineiche. Die allerdings vibrierte vom Chor der Zikaden in ihrer Krone.
Und Marco küsste Julia, er küsste sie von oben bis unten. Er war ein begabter und fantasievoller Liebhaber. Ganz anders als der, mit dem sie sich die letzten zwei Jahre geplagt hatte. Ein Mann namens Hans, auf den sie aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht nennen hätte können, fixiert gewesen war, aber das hatte auch nichts genützt, eher im Gegenteil, und jetzt war sie auf dem besten Weg, diese Fixierung loszuwerden.
Das tat gut, aber danach hatten sie Hunger und Durst. Sie hatten Lust auf eine kleine
merenda
. Aber es war schon viel später, als sie dachten. Sie hätten geschätzt, es sei Viertel vor zwölf, doch es war schon halb drei.
Dass ihnen die Zeit miteinander so schnell verging, war ja schön. Nun aber hatten sie ein kleines Problem. Ihre Mägen knurrten. Und ihre Kehlen waren trocken. Doch es war die Zeit der Nachmittagsruhe, die damals in der Gegend südlich von Siena noch streng eingehalten wurde.
Das merkten sie, sobald sie auf die Via Cassia zurückgefunden hatten. Wozu sie übrigens auch noch ein Weilchen brauchten. Es muss dann schon gegen drei gewesen sein. Kilometer um
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