Mortimer & Miss Molly
Hauptstraße. Die Hoffnung, die sie zuvor, noch im Auto, in diesen von außen gesehen so sympathischen Ort gesetzt hatten, die Hoffnung auf eine kleine, offene Osteria, war drauf und dran, in Enttäuschung umzuschlagen.
Dachten sie später daran, so mussten sie lächeln. In diesem Ort, der ihnen mit der Zeit so vertraut werden sollte, kannten sie sich schlicht und einfach noch nicht aus. Das war logisch und trotzdem, aus der Distanz betrachtet, komisch. Sie hatten noch keine Ahnung von den örtlichen Verhältnissen.
Das
Caffè Italiano
, in dessen kleinem Hinterhof sie später so gern saßen, hielten sie für geschlossen. Obwohl Pietro und Bruna, die beiden alten Leute, die in den folgenden Tagen und Wochen so nett zu ihnen waren, bestimmt da drinnen unter dem Ventilator dösten. Die
Bar Centrale
auf der Piazza hatte tatsächlich zu. Doch es war Mittwoch, und das war dort der traditionelle Ruhetag. Bis zur
Bar Osenna
im unteren Teil der Via Dante drangen sie gar nicht vor. Stattdessen bogen sie links ab und verliefen sich in den Seitengassen. Sie gingen im Kreis und kamen genau an der Stelle, wo sie abgebogen waren, wieder heraus. Dort gab es damals noch die kleine
Coop
-Filiale neben der Casa del Popolo, aber die sperrte erst um halb sechs wieder auf.
Schon waren sie entschlossen, zum Auto zurückzukehren, in dem in einer noch in Siena gekauften Plastikflasche ein Rest Mineralwasser sein musste. Schön warm von der Sonne, aber – darüber waren sie sich einig – besser als nichts. Sie mussten was trinken, und nach dem ersten, rettenden Schluck konnten sie ja weiterfahren. Etwa nach Pienza oder Montepulciano, wo die Mittagsruhe vielleicht nicht ganz so lang dauerte.
Wären sie weitergefahren, so hätten sie nie die geringste Ahnung davon gehabt, was ihnen in (oder an) San Vito entgangen wäre. Es wäre für sie ein Ort geblieben, in dem sie eine kurze Pause gemacht, einige Tiere, aber keinen Menschen getroffen und kein Lokal gefunden hatten. Ein Ort, der weiter nichts für sie bedeutet hätte, ein Ort, dessen Name ihnen entfallen wäre. Und bestimmt hätten sie dann nie etwas von der Geschichte von Mortimer und Molly gehört.
6
War der Hotelier Fantini wirklich der erste Mensch, den sie in San Vito zu Gesicht bekamen? Ja, sie konnten sich an keinen anderen erinnern. In der Erinnerung an diesen Nachmittag tauchte kein anderer auf. Es war ihnen keiner über den Weg gelaufen.
Der Hotelier Fantini – das klingt reichlich hochtrabend. Wenn man das hört (oder liest), bekommt man einen völlig falschen Eindruck von ihm. Fantini betrieb schlicht und einfach das Albergo. Und das hatte schon etwas hergemacht, damals, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als noch sein Vater der Chef und ein
richtiger
Hotelier war. Ein korpulenter Mann mit einer Uhrkette am Bauch. Die Daumen in den Hosenbund gesteckt, steht er vor dem Hotel, an dessen Fassade damals noch alle Buchstaben prangten. Vielleicht sogar golden, noch kein einziger abgestürzt. So sah man ihn, den alten Fantini, auf alten Fotos, aber das war einmal gewesen.
All
’
epoca
, wie man sagt, in der guten, alten Zeit. Schon wahr, da hatten sich die Faschisten wichtig gemacht, und die hatten nach 1945 keine gute Nachrede. Doch damals, in den Dreißigerjahren, war auch hier etwas los gewesen. Hohe Besuche. Zwei oder drei Mal war sogar der Graf Ciano da.
Vielleicht war Fantini senior gar kein Faschist. Jedenfalls kein glühender. Aber er war ein Hotelier. Da kann es schon sein, dass einer bereitwillig den Arm zum römischen Gruß erhebt. In der Hotelbranche verdient man sein Geld nicht mit der Faust in der Tasche.
Na ja, und nach dem Krieg war halt alles anders. Da war San Vito eine rote Gemeinde. Das hat dem Hotel nicht unbedingt gutgetan. Zwar konnte der Sohn nichts für den Opportunismus seines Vaters, aber er war sein Erbe, das war sein Pech. In den Fünfzigerjahren, als er das Hotel übernommen hatte, ging es noch einigermaßen. Da fuhr noch die
Mille Miglia
durch den Ort, die berühmte Auto-Rallye. Und der
Giro d
’
Italia
kam hier vorbei, mit legendären Radstars wie Bartali und Coppi. Aber dann, als die Straße, die Cassia, nach draußen verlegt wurde und an San Vito vorbeiführte, kamen die mageren Jahre, da war nichts zu machen.
Manchmal erschien dem Sohn der Vater im Traum. Du bist ein schlechter Sohn, sagte er, du hast das Hotel heruntergewirtschaftet. Aber Papa, sagte er dann, das war nicht nur ich. Die Zeit, die Verhältnisse ... Aber der alte
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