Mortimer & Miss Molly
früher vor, weil sich die Sonne an diesem Tag vorerst nicht sehen ließ. Wolken zogen vorbei, es blies ein frischer Wind. Ein Wind, der auch die Bäume dort drüben bewegte.
Stimmt schon, vom Fenster des Zimmers Nummer 11 sah man vor allem das Tor zum
giardino
. Und je ein Stück Mauer links und rechts davon. Aber im Hintergrund sah man auch einige Bäume. Das waren die
lecce
, die Steineichen, die den unteren Teil des Gartens vom oberen trennten.
Die Gebärdensprache dieser Bäume! Die sollten sie später noch wiederholt bewundern. Manchmal machten diese Steineichen wirklich den Eindruck, als wollten sie etwas sagen. Oder zumindest – ihren Artikulationsmöglichkeiten entsprechend – etwas andeuten.
In ihren Bewegungen lag etwas Suggestives. Etwas Verlockendes, etwas, das Ahnungen evozierte. Und das kam denn auch auf der Stelle zur Wirkung. Beide, Marco und Julia, hatten sofort das Bedürfnis, diesen Garten oder Park oder was es war, in Augenschein zu nehmen.
Glaubst du, ist er privat, oder ist er frei zugänglich?, fragte Julia.
Das werden wir ja gleich sehen, sagte Marco, wir brauchen nur über den Platz zu gehen.
Und wenn er privat ist, dieser Garten, was dann?
Das werden wir auch sehen, sagte Marco. Vielleicht klettern wir irgendwo über die Mauer.
Das hatten die Kinder hier früher tatsächlich getan. Solang der
giardino
noch im Besitz der Familie Bianchi war. Die ihn partout nicht für alle öffnen wollte. Aber das erfuhren Marco und Julia erst später.
Was sie betraf, so mussten sie jedenfalls nicht über die Mauer klettern. Der Garten war offen.
Aperto dall’alba al tramonto
stand auf einem Schild neben dem Tor. Das war eine Formulierung, die sich Marco auf der Zunge zergehen ließ. Geöffnet von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang.
Wie Marco und Julia dann den Garten betraten. Den Garten oder genau genommen:
die Gärten
. Es gab ja zwei Ebenen, die untere und die obere. Unten ein französischer Garten, oben ein englischer.
In ihrer Erinnerung an diese Szene ist es sehr still. Der Wind, der zuvor die Steineichen bewegt hat, hat nachgelassen. Und sie sind an diesem Vormittag die einzigen Besucher. Der Garten ist öffentlich zugänglich, aber die Ortsansässigen kommen erst am Abend.
Touristen? Nein, Touristen gibt es noch nicht. Nur sie beide. Die sie vorerst in den unteren Garten hineingehen. Schritt für Schritt. Und unwillkürlich dämpfen sie ihre Stimmen. Als ob es gälte, den Genius Loci nicht zu verscheuchen.
Ma guarda
, sagt Marco,
come è fatto bello!
Wie schön das gemacht ist!
Così bello e così semplice. Così semplice e così raffinato
. So schön und so einfach. So einfach und raffiniert.
Das Areal des unteren Gartens hat etwa die Form eines gleichschenkeligen Dreiecks. Oder eher die eines Deltoids? Die Form eines Dreiecks oder eines Deltoids, aus dessen spitzem Winkel man kommt. Und Schritt für Schritt öffnet sich die Perspektive.
Deltoid oder Dreieck – in sich ist diese geometrische Figur jedenfalls unterteilt in von Buchsbäumen begrenzte Felder. Marco und Julia zählen. Es sind zwölf. Sechs dreieckförmige Felder außen, sechs trapezförmige Felder innen. Und in der Mitte ein Sechseck, beinahe ein Kreis.
Der Kreis, in dem Mortimer gelandet ist. Mortimer, dessen Geschichte sie nachhaltig beeindrucken wird. Aber an diesem Vormittag wissen sie noch nichts davon. Und der Mann, den sie ein paar Tage später am Fenster seines Zimmers im Albergo stehen sehen werden, der alte Amerikaner, der ein bisschen aussieht wie der alte Hemingway, existiert für sie noch nicht.
Obwohl er vielleicht auch jetzt schon am Fenster steht. Und in den Garten hinunterschaut, denn das tut er meistens. Vielleicht beobachtet er die beiden schon seit einer Weile. Jetzt gehen sie von der Stelle, an der er gelandet ist, hinüber zu dem schmalen Haus, dem Haus in der Mauer, unter dessen Gewölbe er damals, im Jahr 1944, rasch Deckung gesucht hat.
An den Torbogen vor dem Gewölbe schmiegt sich ein Baum mit wilden Kirschen. Ein schönes Motiv, gewiss, besonders mit einer jungen Frau wie Julia darunter. Und Marco führt die Kamera ans Auge, aber dann zögert er einen Moment. Möglicherweise spürt er Mortimers Blick.
Dieses Haus, an dessen sienabraunes Gemäuer sich nicht nur der Wildkirschenbaum schmiegt, sondern an dem sich auch eine märchenhafte Bougainvillea-Hecke hochrankt ... aus einem einzigen Stamm emporwachsend, weit verzweigt bis fast hinauf zu Miss Mollys Fenstern ... Dieses
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