Moskauer Diva
gespannt. Ein Viereck leuchtete auf. Eine Leinwand! Darauf erschien eine Kutsche mit vier Pferden. Sie galoppierten.
Eine Kombination aus Kinematographie und Theater? Interessant, dachte Erast Petrowitsch.
Der Kenner hatte recht – durch Parterre und Ränge ging ein begeistertes Raunen.
»Tja, er kann den Zuschauer vom ersten Moment an packen, der Teufel«, flüsterte Zarkow, zu Fandorin gebeugt – und schlug sich auf den Mund: Pardon, ich bin schon still.
Pastorale Musik ertönte, und auf der Leinwand erschien eine Schrift: »Eines Tages, gegen Ende der Herrschaft von Katharina der Großen, kehrte ein glänzender junger Gardeoffizier aus seinem Regiment zurück auf sein Gut …«
Die Inszenierung war höchst abwechslungsreich, mit vielen guten Einfällen, spielerisch und zugleich philosophisch, mit wunderschönen Dekorationen und Kostümen, angefertigt von einem populären Künstler der Gruppe
Miriskussniki
9 . Die kurze Parabel vom einfachen, armen Mädchen, das sich wegen der Untreue ihres Geliebten ertränkt, war mit diversen Sujetschnörkeln angereichert.Zusätzliche Personen tauchten auf, teils gänzlich neue, teils solche, die bei Karamsin nur am Rande vorkommen. In dem Stück ging es um eine leidenschaftliche, sich über alle Verbote hinwegsetzende Liebe – schließlich gibt sich die arme Lisa ihrem Erast hin, ohne sich um Gerede oder mögliche Folgen zu scheren. Das Stück erzählte von selbstlosem weiblichem Mut und von männlicher Feigheit vor der öffentlichen Meinung; von der Schwäche des Guten und der Macht des Bösen. Letzteres verkörperten sehr lebendig und anschaulich die reiche Witwe (Lissizkaja) und der Falschspieler (Mefistow), den die Witwe anheuert, um den verliebten Erast zu ruinieren und ihn zur Heirat aus Berechnung zu zwingen.
Für die Veranschaulichung des historischen Moskau, von Landschaft und Natur wurde immer wieder die kinematographische Leinwand genutzt. Großartig war die Szene des Kampfs mit dem Geist von Lisas Vater (verkörpert von Rasumowski), der von einem hellblauen Scheinwerfer angestrahlt wurde. Beeindruckend waren auch Monolog und Tanz des Todes, der das Mädchen in den See lockt (diese Rolle spielte Herr Stern selbst).
Am meisten beeindruckte das Publikum jedoch der Trick mit der Skulptur. Fast den gesamten zweiten Akt hindurch stand eine Pan-Statue auf der Bühne, ein Sinnbild für die pastorale Sinnlichkeit der Liebeslinie. Nach einigen Minuten beachteten die Zuschauer die Statue natürlich nicht mehr und hielten sie für einen Teil des Bühnenbilds. Wie groß aber war das Entzücken, als der antike Gott am Ende des Aktes plötzlich lebendig wurde und auf seiner Flöte blies!
Zum ersten Mal erlebte Erast Petrowitsch eine Truppe, bei der keine Niveau-Unterschiede im Spiel der Akteure spürbar waren. Alle Schauspieler, selbst die Darsteller kleiner Rollen, waren tadellos. Jeder Auftritt war ein wahres Feuerwerk.
Doch die zahlreichen Vorzüge der Inszenierung blieben Fandorin so gut wie verborgen. Von dem Augenblick an, da die ElisaAltaïrskaja-Lointaine zum ersten Mal die Bühne betrat, zerfiel die Aufführung für ihn in zwei ungleiche Teile: Szenen, in denen sie mitwirkte, und solche ohne sie.
Kaum ertönte die sanfte Stimme mit einem schlichten Lied über Blumen am Feldrain, als unbarmherzige Finger das Herz des bis dahin gleichgültigen Zuschauers umklammerten. Er erkannte diese Stimme! Er glaubte sie vergessen zu haben, nun aber stellte sich heraus, dass er sich all die Jahre die Erinnerung daran bewahrt hatte!
Auch die Gestalt, der Gang, die Drehung des Kopfes – alles war ganz genau so!
»Erlauben Sie …«
Fandorin wandte sich um und entriss dem Kornett beinahe mit Gewalt den Feldstecher.
Das Gesicht … Nein, das Gesicht war anders. Aber der Ausdruck der Augen, das vertrauensvolle Lächeln, die Vorfreude auf das Glück und die Offenheit für das Schicksal! Wie konnte man das alles so glaubwürdig, so gnadenlos wiedergeben? Er kniff sogar die Augen zusammen und protestierte nicht, als der Husar ihm den Feldstecher wieder wegnahm, wobei er ärgerlich flüsterte: »Geben Sie her, geben Sie her, ich möchte sie auch bewundern!«
Zuzuschauen, wie die arme Lisa den leichtsinnigen Erast liebgewann, wie er ihre Liebe gegen andere Neigungen tauschte und sie zugrunde gehen ließ, war schmerzhaft und zugleich auch …
lebensspendend
– ein seltsames, aber sehr treffendes Wort. Als kratze ihm die Zeit mit scharfen Krallen die Hornhaut von der Seele, und
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