Moskauer Diva
und emporzustreben schien.
O Gott! Das war keine Blüte! In dem doppelten Kreis tauchte der rhombische kleine Kopf einer Schlange auf. Es war eine Viper, und sie strebte direkt auf die Brust der versteinerten Diva zu.
»Eine Schlange! In dem Korb ist eine Schlange!«, brüllte Limbach, schwang sich über die Brüstung und sprang hinunter in den Gang.
Das Ganze dauerte nur wenige Augenblicke. Die Zuschauer in den ersten Parkettreihen schrien und schwenkten die Arme. Der restliche Saal, der nichts begriff, brach in erneute Ovationen aus.
Der verwegene Husar sprang auf die Beine, riss seinen Degen aus der Scheide und rannte zur Bühne. Doch noch schneller eilte der weißgeschminkte Marmor-Pan der Altaïrskaja zu Hilfe. Er stand hinter der Schauspielerin und hatte darum als Erster die furchteinflößende Bewohnerin des Blumenkorbs entdeckt. Der gehörnte kleine Gott lief herbei, packte die Schlange furchtlos am Hals und riss sie mit einem Ruck heraus.
Nun sah der ganze Saal, was hier vorging. Die Damen quiekten. Frau Altaïrskaja schwankte und fiel rücklings zu Boden. Dannschrie der mutige Pan auf – die Schlange hatte ihn in den Arm gebissen. Er schlug sie schwungvoll auf den Boden und trampelte mit den Füßen auf ihr herum.
Das Theater war erfüllt von Schreien, Sesselklappen und Kreischen.
»Einen Doktor! Ruft einen Doktor!«, rief irgendwer auf der Bühne. Jemand fächelte Elisa mit einem Tuch Luft zu, ein anderer brachte den gebissenen Helden weg.
Ganz hinten auf der Bühne erschien ein großer, sehr hagerer Mann mit kahlgeschorenem Schädel.
Er stand mit vor der Brust gekreuzten Armen da, betrachtete den ganzen Tumult – und lächelte.
»Wer ist das? Der Mann da hinter den anderen?«, fragte Fandorin seinen allwissenden Nachbarn.
»Einen Augenblick«, sagte dieser und beendete sein leises Gespräch mit seinem gestreiften Handlanger. »Herausfinden, wer das war, und bestrafen!«
»Wird gemacht.«
Der Pfeifer ging rasch hinaus, und Herr Zarkow wandte sich, als sei nichts geschehen, mit einem höflichen Lächeln an Fandorin.
»Wo? Ach, das ist Noah Nojewitsch Stern höchstpersönlich. Er hat die Maske des Todes abgelegt. Nein, wie er strahlt! Na, kein Wunder. Ein solcher Erfolg! Jetzt werden die Moskauer wegen der ›Arche‹ endgültig kopfstehen.«
Was für eine seltsame Welt, dachte Fandorin. Unerhört seltsam!
Erste Bekanntschaft
Der Premieminister starb genau zu der Zeit, die Erast Petrowitsch im Theater verbrachte. Am nächsten Tag hingen überall Flaggen mit schwarzem Trauerflor, die Zeitungen erschienen mit riesigenTrauerschlagzeilen. In den liberalen Blättern hieß es: Der Verstorbene habe zwar reaktionäre Ansichten vertreten, doch mit ihm sei die letzte Hoffnung auf eine Erneuerung des Landes ohne Erschütterungen und Revolutionen gestorben. Die patriotischen verfluchten den Stamm der Juden, dem der Mörder angehörte, und sahen eine besondere Bedeutung darin, dass Stolypin just am Todestag des gottesfürchtigen Fürsten Gleb 10 verschieden war und das Heer der Märtyrer auf russischem Boden vermehrt habe. Die melodramatischen Boulevardgazetten zitierten eifrig Stolypins Vermächtnis, in dem er verfügt habe, er wolle dort begraben werden, wo er »getötet werde«.
Die tragische Nachricht (der Anruf erreichte Erast Petrowitsch, als er aus dem Theater kam) bewegte ihn nicht besonders. Der Anrufer, ein hochgestellter Beamter, erklärte auch, im Ministerrat sei erörtert worden, ob man Fandorin zu den Ermittlungen heranziehen sollte, doch der Kommandeur des Gendarmeriekorps sei entschieden dagegen gewesen, und der Minister habe dazu geschwiegen.
Interessanterweise war Fandorin nicht im mindesten enttäuscht, sondern im Gegenteil erleichtert, und wenn er die ganze Nacht kein Auge zutat, so nicht, weil er gekränkt gewesen wäre, und schon gar nicht aus Sorge um das Schicksal des Staates.
Er ging in seinem Kabinett auf und ab, den Blick auf das spiegelblanke Parkett gerichtet, legte sich mit einer Zigarre auf den Diwan und schaute an die weiße Decke; er setzte sich aufs Fensterbrett und starrte in die schwarze Dunkelheit – und sah immer dasselbe: einen schlanken Arm, müde Augen, einen Schlangenkopf zwischen Blüten.
Fandorin war es gewohnt, Tatsachen zu analysieren, nicht jedoch seine eigenen Emotionen. Auch jetzt blieb er auf dem Pfad rationalerÜberlegungen, denn er spürte, wenn er auch nur einen Schritt davon abwich, würde er in einen Sumpf geraten, aus dem er keinen Ausweg
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