Moskauer Diva
Ende der Vorstellung kam der gestreifte Pfeifer in die Loge und trat respektvoll hinter deren Besitzer, das grüne Portefeuille unter den Arm geklemmt und Notizbuch und Bleistift in der Hand.
»Nun denn«, sagte Zarkow zu ihm, während er beinahe lautlos in die Hände klatschte. »Ihr und Stern will ich meinen Dank persönlich abstatten. Stell mir etwas bereit, vom Besten. Smaragdow kann sich mit dir begnügen. Bring ihm meine Visitenkarte und vielleicht etwas Wein. Was trinkt er gern?«
»Bordeaux, Chateau Latour, zu fünfundzwanzig Rubel die Flasche«, sagte der Gestreifte nach einem kurzen Blick in sein Notizbuch und stieß einen leisen Pfiff aus. »Ein edler Geschmack.«
»Ein halbes Dutzend … He, Sie, nicht so laut!« Das galt dem Husaren, der, kaum war der Vorhang gefallen, immer wieder schrie: »Loin-taine! Loin-taine!«
Auch Erast Petrowitsch kränkte den Kornett.
»Geben Sie mal her.« Wieder nahm er dem Jungen den Feldstecher weg. Er wollte zu gern sehen, wie das Gesicht der erstaunlichen Schauspielerin aussah, wenn sie nicht mehr spielte.
»Aber ich muss doch sehen, wie sie meinen Korb empfängt!«
Der Offizier versuchte, Fandorin den Feldstecher zu entreißen, aber ebenso gut hätte er versuchen können, der Bronzestatue von Minin und Posharski das Schwert zu entreißen.
»Betrachten Sie es als Bezahlung für Ihren Platz«, zischte Fandorin, während er scharf stellte.
Nein, sie ist ihr kein bisschen ähnlich, sagte er sich. An die zehn Jahre älter. Und ihr Gesicht ist nicht oval, sondern eher eckig. Und ihre Augen sind nicht jung, sondern müde. Ach, was für Augen …
Er ließ den Feldstecher sinken, plötzlich von einem unerklärlichen Schwindelgefühl erfasst. Das war ja ganz was Neues!
Die Schauspieler traten zum Applaus nicht wie üblich einzeln vor den Vorhang, sondern alle zusammen: Vorn die Hauptdarstellerin und der Erste Herr, dahinter alle übrigen. Der Darsteller des Todes, also Noah Stern selbst, erschien gar nicht – er glänzte sozusagen durch Abwesenheit.
Unter unaufhörlichem Beifall trugen Saaldiener von beiden Seiten erst Blumensträuße auf die Bühne, anschließend Körbe voller Blumen – erst kleinere, dann größere. Rund die Hälfte der Gaben war für Smaragdow, die andere Hälfte für die Altaïrskaja. Die übrigen Schauspieler bekamen ein, zwei Sträuße, und auch das nicht alle.
»Gleich bringen sie meinen Korb! Geben Sie doch her! Da ist er! Er hat mich meinen ganzen Monatssold gekostet!«
Der Husar hängte sich an Fandorins Arm, und dieser musste ihm den Feldstecher zurückgeben.
Der Korb war wirklich üppig – eine ganze Wolke weißer Rosen.
»Jetzt nimmt sie meinen Korb, meinen!«, wiederholte der Kornett und bemerkte dabei offenbar nicht, dass er vor Aufregung seinen Nachbarn am Ärmel zupfte.
»Erlauben Sie. Ich sehe, es interessiert Sie.«
Herr Zarkow reichte Fandorin liebenswürdig seine perlmuttgefasste Lorgnette. Erast Petrowitsch griff nach dem Spielzeug, hielt es sich vor die Augen und stellte erstaunt fest, dass die Vergrößerung dem Offiziersfeldstecher in nichts nachstand.
Erneut sah er das lächelnde Gesicht von Elisa Altaïrskaja-Lointaine ganz nah vor sich. Sie schaute seitlich nach unten, und ihre feinen Nasenflügel erbebten leicht. Was mochte sie verstimmen? Doch nicht etwa, dass der letzte für Smaragdow bestimmte Korb (zitronengelbe Orchideen) prachtvoller war als ihre weißen Rosen? Nein, wohl kaum. Diese Frau konnte nicht so kleinlich und eitel sein!
Zudem wurde eben ein weiterer Korb auf die Bühne getragen, ein wahrer Blumenpalast. Für wen – für sie oder für Smaragdow?
Für sie! Das Wunder der Floristik wurde unter den begeistertenRufen des Publikums vor der Altaïrskaja abgestellt. Sie machte einen Knicks, versenkte das Gesicht in die Blumen und umschlang sie mit ihren schlanken weißen Armen.
»Verdammt, verdammt …«, stöhnte Limbach kläglich, als er sah, dass er geschlagen war.
Erast Petrowitsch richtete die Lorgnette für einen Augenblick auf Smaragdow. Die bildschönen Züge des Karamsinschen Erast waren wutverzerrt. Meine Güte, solche Leidenschaft wegen Blumen!
Er schaute wieder zu Elisa und erwartete, sie triumphieren zu sehen. Doch das schöne Gesicht der Schauspielerin wirkte wie eine Schreckensmaske: Die Augen waren weit aufgerissen, die Lippen in einem lautlosen Schrei erstarrt. Was war los? Was hatte sie so erschreckt?
Plötzlich sah Fandorin, dass eine noch geschlossene dunkle Blüte sich bewegte
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