Mozarts letzte Arie
zugeknöpften Jacke betrat er den Salon und warf dem Porträt des Salzburger Prinzerzbischofs an der Wand einen Luftkuss zu, weil er wusste, dass mich das zum Lachen brachte. Als er mich umarmte, presste ich seinen Kopf an meinen Hals, weil ich in diesem Moment keine Gesichtszüge ertragen konnte, die denen meines Bruders als Kind so sehr ähnelten. Ich strich ihm die blonden Haare hinter die Ohren.
«Spielst du etwas für mich, Mama?», sagte er. «Meine Finger sind müde.»
«Müde? Es ist doch noch nicht einmal acht Uhr morgens. Hast du etwa nicht einmal mehr Kraft, um heute Unfug zu treiben?» Ich ergriff seine kalten kleinen Hände und hauchte sie an.
Er kicherte.
«Ich
bin ja nicht müde. Nur meine Finger.»
«Ich spiele dir bald etwas vor, mein Liebling. Zuerst muss Mama aber noch einen Brief lesen.»
«Wer hat ihn geschrieben?»
«Deine Tante Constanze aus Wien.»
Da er meiner Schwägerin noch nie begegnet war, zuckte der Junge die Schultern.
«Sieh mal nach, ob Jeannette noch schläft», sagte ich. «Es wird Zeit, dass Lenerl ihr Frühstück macht.»
Bei der Erwähnung seiner vier Jahre jüngeren Schwester grinste er und sprang die Treppe hoch.
Ich schloss die Augen. Im Geiste hörte ich das Dutzendkomplexer Variationen von
Ah, vous dirai-je,
die Wolfgang komponiert hatte, Tempowechsel von
legato
bis
staccato,
die fließenden, mit der linken Hand auf der Tastatur auf- und absteigenden Tonleitern. Ich konnte meinen eigenen leichten Tastenanschlag spüren, das Manuskript sehen, seine zarten Finger, mit denen er in seiner typischen, leicht nach hinten geneigten Handschrift die Noten aufs Papier warf.
Oben protestierte Jeannette dagegen, geweckt zu werden, bis Leopold sie kitzelte und zum Lachen brachte, wie er es jeden Morgen tat.
Ich las weiter in Constanzes Brief. Die langatmigen Berichte über die verzweifelten Gänge ihrer Schwester zu Priestern und Ärzten überflog ich nur; nichts davon schien meinem Bruder geholfen zu haben. Es war höchst zweifelhaft, ob er überhaupt die Sterbesakramente empfangen hatte.
Der Brief ging zurück bis zur Premiere der
Zauberflöte,
der neuen Oper meines Bruders, bis ich mich plötzlich mit Constanze und Wolfgang an einem schönen Oktobertag in den öffentlichen Gärten des Praters befand. Bei der Gelegenheit, las ich, hatte Wolfgang seiner Frau gesagt, er wisse, dass er
nicht mehr lange zu leben habe. Ich bin mir sicher, vergiftet worden zu sein.
Die Tasse zitterte in meiner Hand. Schokolade schwappte über den Rand. Ich stellte die Tasse so hektisch auf den Tisch, dass sie gegen die Untertasse stieß und umkippte. Meine Finger schmierten Kakao über den Brief.
Constanze schrieb, sie sei nicht in der Lage gewesen, Wolfgang von der furchtbaren Vorstellung abzubringen, dass sein Tod vorherbestimmt sei. Von Zeit zu Zeit hatte er sich wieder so weit erholt, dass er seinen Verdacht als vorübergehende Wahnvorstellungen verwarf. Doch schon bald kehrte er zu der Gewissheit zurück, dass sein Ende nah war – durch die Hand eines Giftmischers. Es betrübte Constanze zutiefst,dass ihre letzten Monate mit Wolfgang von dieser Schwermut überschattet gewesen waren.
Der Brief lieferte noch einen kurzen Bericht über Wolfgangs Beisetzung im Stephansdom, die sein Freund, der bekannte Musikkenner Baron van Swieten, organisiert hatte. Constanze schloss mit einigen Beileidsfloskeln, aber ich spürte, dass sie eher ihr eigenes schweres Leid zum Ausdruck bringen wollte und annahm, dass ich kaum um den Verlust meines mir entfremdeten Bruders trauern würde.
Ich wollte den Brief schon beiseitelegen, als ich noch eine Seite bemerkte, die zusammengefaltet unter den anderen lag. Ein Postskriptum auf einem kleineren Blatt Papier.
Es könnte sein, dass Dich Klatschgeschichten erreichen, die von der Untreue Deines Bruders mir gegenüber sprechen. Ich flehe Dich an, solchen Verleumdungen keinen Glauben zu schenken. Am Tag von Wolfgangs Beisetzung hat sein lieber Freund und Logenbruder Hofdemel mit einem Rasiermesser seiner Frau Magdalena das Gesicht zerschnitten, die in ihrem Haus hinter dem Judenplatz von Deinem Bruder Unterricht bekam. Der arme Hofdemel hat sich dann selbst das Leben genommen. Unter einigen, deren Schande ewig währen möge, war die Rede davon, Hofdemel habe wegen einer Romanze zwischen Wolfgang und Magdalena in einem Eifersuchtsanfall den Verstand verloren. Manche haben sogar behauptet, der rasende Hofdemel habe meinen geliebten Wolfgang durch Gift ermordet. Ich
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