Mr. K: Thriller (German Edition)
klar war, dass Polizeiarbeit sich nicht nur darauf beschränkte, Verbrecher zu fangen, sondern sich auch mit der Frage beschäftigte, wie und warum manche Menschen Kriminelle wurden, war ein Teil von mir auf Harrys Seite. Natürlich trugen Faktoren wie Armut, Erziehung und Erbgut ihren Teil zu kriminellem Verhalten bei, aber mir persönlich lag mehr daran, Verbrechen zu verhindern, als die Gründe dafür zu verstehen.
Aber das Böse?
Das war doch ein Thema für Philosophen, nicht für Psychologen. Ich wollte gerade etwas dazu sagen, als mir jemand in der vordersten Reihe zuvorkam.
»Wir haben aber gelernt, dass das Böse nicht existiert. Erst letzte Woche hat Ihr Kollege, Dr. Habersham, uns erzählt, dass Moral in der Polizeiarbeit keinen Platz hat. Die Polizei hat die Aufgabe, über die Einhaltung der Gesetze zu wachen, aber nicht, über Recht und Unrecht zu entscheiden.«
»Ich bin erstaunt, dass Sie während des Vortrags von Dr. Habersham lange genug wach geblieben sind, um sich dieses Detail zu merken.«
Die Klasse brach in Gelächter aus. Der Typ begann mir zu gefallen.
»In der Tat«, fuhr er fort, »behaupten manche Philosophen, dass jede Gesellschaft ihre eigene Vorstellung von Moral hat. Im alten Rom war es zum Beispiel völlig in Ordnung, Menschen den Löwen zum Fraß vorzuwerfen. Vor etwas mehr als hundert Jahren hat man in unserem eigenen Land Menschen als Sklaven gehandelt. Und vor vierzig Jahren hat Deutschland den Völkermord gebilligt. So etwas gibt es heute immer noch. Man braucht sich bloß als jüngstes Beispiel Kambodscha anzuschauen. Dort hat man über zweihunderttausend Menschen gezwungen, ihre eigenen Gräber zu schaufeln, bevor man sie mit Axtstielen erschlagen hat, um Munition zu sparen.«
Ich blickte mich im Klassenzimmer um. Kein einziger von meinen Mitschülern zappelte herum oder döste vor sich hin. Sogar Harry sah aus, als höre er aufmerksam zu.
»Bevor wir über das Böse reden«, fuhr Dr. Horner fort, »müssen wir uns erst einmal darüber im Klaren sein, wie wir diesen Begriff definieren: als eine Handlung oder als eine Charaktereigenschaft. Machen wir doch mal ein Gedankenexperiment. Ein unschuldiger Mensch, nehmen wir mal an, ein Kind, wird ermordet. Ist das eine böse Tat? Wenn Ihre Antwort ja lautet, heben Sie bitte die Hand.«
Fast jede Hand schnellte nach oben. Ich ließ meine auf dem Schreibpult liegen.
Dr. Horner sah mich an und zeigte auf mich.
»Sie haben sich nicht gemeldet. Würden Sie uns bitte sagen, warum, Miss …?«
»Streng«, sagte ich. »Jacqueline Streng. Hinter einer vorsätzlich begangenen Tat stecken vielleicht altruistische Beweggründe und …«, ich suchte fieberhaft nach dem lateinischen Begriff, den wir erst kürzlich gelernt hatten, »
mens rea
.«
Dr. Horner lächelte. »Ich sehe, Sie haben fleißig gelernt, Miss Streng. Aber lassen Sie doch bitte die Fachsprache und nennen Sie mir ein Beispiel, wann der Mord an einem Kind keine böse Tat ist.«
»Was ist, wenn das Kind an Krebs stirbt und furchtbare Schmerzen leidet? Die Eltern oder sonst jemand, der das Kind liebt, könnten einen Mord erwägen, um das Leiden zu beenden.«
»Ausgezeichnet, Miss Streng. Aktive Sterbehilfe erfüllt die rechtlichen Kriterien für Mord. Die tatsächliche Durchführung des Verbrechens,
actus reus
, und die ausdrückliche Absicht, das Verbrechen zu begehen,
mens rea
, gelten in der Tat als vorsätzliche Handlung. Die Eltern sind also nach heutigem Recht Mörder. Wer von Ihnen glaubt, dass es sich bei dem soeben geschilderten Szenario um eine böse Tat handelt?«
Niemand hob die Hand.
»Aber vorhin hat fast jeder die Hand gehoben. Wenn die Handlung an sich keine böse Tat ist, was dann?«
»Das Motiv«, sagte jemand.
»Ah.« Dr. Horner nickte. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Die Entscheidung der Eltern, einen Mord zu begehen, basiert auf ihrem Wunsch, das Leiden des Kindes zu beenden. Ein ehrenwertes und selbstloses Motiv. Und nun erlauben Siemir, Ihnen ein Motiv zu zeigen, das nicht ganz so selbstlos ist. Licht aus, bitte.«
Rostenkowski machte das Licht aus. Dr. Horner stellte sich hinter einen Dia-Projektor und schaltete das Gerät ein. Auf der Leinwand am anderen Ende des Klassenzimmers erschien ein Bild.
Jemand hüstelte – ein Versuch, den Brechreiz zu unterdrücken. Ich zwang mich dazu, hinzusehen, obwohl ich dabei den Atem anhalten musste. Im Raum schien es zehn Grad kälter geworden zu sein.
»Die Identität dieses Opfers konnte nie
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