Mrs. Alis unpassende Leidenschaft
sofort zusammen zu verkaufen. Das Geld bekommst natürlich du, Dad, aber da du es mir sowieso irgendwann vermachst – ich könnte es auch jetzt schon gut gebrauchen.«
Der Major schwieg. Er konzentrierte sich auf seine Atmung. Bisher war ihm nie richtig bewusst geworden, welchen mechanischen Aufwands es bedurfte, die Luft langsam in die Lunge hineinzusaugen und wieder hinauszupressen, den Sauerstoff gleichmäßig durch die Nase strömen zu lassen. Roger hatte wenigstens den Anstand, verlegen auf dem Sofa hin und her zu rutschen. Er wusste genau, was er da forderte, dachte der Major.
»Entschuldige, Ernest, aber draußen steht so eine komische Frau, die behauptet, sie würde auf dich warten«, sagte Marjorie, die plötzlich aufgetaucht war und ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Er hob den Blick und hüstelte, um zu kaschieren, dass seine Augen feucht geworden waren. »Erwartest du eine dunkelhäutige Frau in einem kleinen Honda?«
»Ja, ja«, antwortete der Major. »Das ist Mrs. Ali, sie holt mich ab.«
»Eine Taxifahrerin?«, fragte Roger. »Aber du hasst doch Frauen am Steuer.«
»Sie ist keine Taxifahrerin«, fauchte ihn der Major an. »Sie ist eine Freundin von mir. Die Besitzerin des Dorfladens.«
»Dann bittest du sie wohl besser rein und bietest ihr eine Tasse Tee an«, sagte Marjorie schmallippig. Sie warf einen kurzen Blick in Richtung des Büfetts. »Gegen ein Stück Sandkuchen wird sie nichts haben – Sandkuchen schmeckt doch jedem, oder?«
»Danke schön, wird gemacht«, sagte der Major und erhob sich.
»Ich hatte eigentlich gehofft, dich heimfahren zu können, Dad«, wandte Roger ein.
Der Major war irritiert.
»Aber du bist doch mit dem Zug gekommen.«
»Das hatte ich ursprünglich vorgehabt«, erklärte Roger, »aber dann kam alles anders. Sandy und ich haben beschlossen, gemeinsam herzukommen. Sie sieht sich gerade ein Wochenendhaus an.«
»Ein Wochenendhaus?« Der Major verstand überhaupt nichts mehr.
»Ja. Sandy meinte, wenn ich sowieso schon hierher muss … Ich liege ihr schon länger damit in den Ohren, dass wir uns in der Gegend etwas kaufen sollten. Dann wären wir näher bei dir.«
»Ein Wochenendhaus«, wiederholte der Major, noch immer mit der Frage beschäftigt, was es mit dieser Sandy auf sich haben mochte.
»Ich kann es kaum erwarten, sie dir vorzustellen. Sie müsste jeden Moment kommen.« Roger ließ den Blick durch das Zimmer wandern, um zu sehen, ob sie bereits aufgetaucht war. »Sie ist Amerikanerin, aus New York. Hat einen ziemlich wichtigen Job in der Modebranche.«
»Mrs. Ali wartet auf mich«, sagte der Major. »Es wäre unhöflich, wenn …«
Roger schnitt ihm das Wort ab. »Ach, die wird das schon verstehen.«
Draußen war es kühl. Die Umrisse der Stadt und das Meer dahinter verschmolzen bereits mit der Dunkelheit. Mrs. Alis Honda stand ganz hinten an dem verschnörkelten Eisentor mit den fliegenden Delphinen. Sie winkte und ging ihm entgegen. In der Hand hielt sie ein Buch und einen halben Cheeseburger in grellbuntem, fettgetränktem Papier. Der Major, ein erbitterter Gegner dieser grauenhaften Fast-Food-Restaurants, die nach und nach den gesamten hässlichen Straßenabschnitt zwischen Krankenhaus und Meeresufer eroberten, war sofort bereit, Mrs. Alis kleines Laster als etwas auf charmante Weise für sie Untypisches zu empfinden.
»Möchten Sie nicht hereinkommen und eine Tasse Tee trinken, Mrs. Ali?«, fragte er.
»Nein danke, Major, ich will nicht stören. Aber meinetwegen müssen Sie sich nicht beeilen. Ich kann mich hier draußen beschäftigen.« Sie deutete auf das Buch in ihrer Hand.
»Wir haben ein großes Büfett da drin«, sagte der Major. »Es gibt sogar selbstgebackenen Sandkuchen.«
»Ich habe hier alles, was ich brauche.« Sie lächelte ihn an. »Lassen Sie sich Zeit mit Ihrer Familie, und wenn Sie fertig sind, stehe ich bereit.«
Der Major war hin- und hergerissen; ihm war elend zumute. Am liebsten wäre er ins Auto gestiegen und sofort losgefahren. Dann würde noch Zeit bleiben, um Mrs. Ali auf einen Tee einzuladen und über ihr neues Buch zu sprechen. Und vielleicht würde sie sich auch ein paar der amüsanteren Aspekte des heutigen Tages anhören.
»Sie werden mich für entsetzlich unhöflich halten«, sagte er, »aber mein Sohn hat es doch noch geschafft und ist mit dem Auto gekommen.«
»Das ist doch schön für Sie!«
»Ja, und er möchte gern … Ich habe ihm natürlich gesagt, dass wir bereits vereinbart
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