Muenchen Blues
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Mein Laden im Schlachthofviertel ist gerade mal fünf Minuten von der Theresienwiese entfernt. Normalerweise spielt das keine Rolle, denn die Theresienwiese ist ein ziemlich reizloses steiniges Gelände, topfeben, dazu ohne Baum und Strauch. Am anderen Ende erhebt sich ein Hang, an dessen Kante ein mächtiges altdeutsches Weib von ihrem Sockel auf die Wiese herunterschaut. Über einem weiten, hemdartigen Kleid, dessen gnädige Falten ihre Körperfülle verhüllen, trägt sie ein Bärenfell um den Leib gegürtet, in ihrer Rechten hält sie das blankgezogene Schwert und mit der Linken hebt sie einen Eichenkranz empor. Selbst Heraldikspezialisten würden bei ihr eher auf Odins Gattin Freya tippen, säße nicht ein bayerischer Löwe zu ihren Füßen, der sie uns als Darstellung der Bavaria nahezubringen versucht. Eingerahmt wird die Bronzestatue von einer Tempelanlage, die so griechisch ist wie das Kapitol in Washington römisch. Der Tempel stellt in diesem anarchischen Mix von Kulturen eine Ruhmeshalle dar, in der verdiente ortsansässige Persönlichkeiten wie der Bierbrauer Pschorr und der Wassertreter Kneipp mit Büsten geehrt werden. Erst mit dieser unterstützenden Information versteht man, warum gewitzte Heraldiker darauf hinweisen, dass der Kranz aus Eichenlaub üblicherweise aus Lorbeer gewunden wird. Wie gesagt: Normalerweise spielt die Nähe zur Theresienwiese keine Rolle, aber einmal im Jahr findet dort untenmindestens vierzehn Tage lang das Oktoberfest statt, das der Münchner dieses steinigen Geländes wegen Wiesn nennt.
Was auf dem Oktoberfest stattfindet, überschreitet die Grenzen der menschlichen Vernunft und Vorstellungskraft in einem solchen Maße, dass nur beherzte Bezifferungen helfen, ein Bild davon zu vermitteln: Von den sechs Millionen Besuchern ergattern allenfalls zwei Millionen einen Platz im Bierzelt. Ein Viertel davon ist ein glatter Ausfall, weil sie nur Kaffee, Wein, Saft oder Schnaps trinken, zu jung, zu alt oder zu invalid sind und damit die sechs Millionen Maß Bier dem Rest überlassen. Die schütten demnach pro Kopf vier Liter in sich hinein. Mancher merkt erst im Lauf des Abends, dass es sich dabei um ein getuntes Wiesnmärzen mit deutlich mehr Prozenten handelt. So abgefüllt, torkeln, taumeln oder stolpern Tausende von Besuchern Richtung Innenstadt. Wenn sie körperlich unbeschadet die stark befahrene Lindwurmstraße überquert haben, suchen sie schnurstracks Seitenstraßen auf, um, von der Macht bis dahin sekundärer Bedürfnisse getrieben, irgendwo in einer nahe gelegenen Einfahrt oder einem Hausgang zu kotzen, zu pissen oder sich endlich gegenseitig an die Wäsche zu gehen. Im Prinzip stehen sie dann direkt vor meinem Laden.
Warum tue ich mir das eigentlich an? Weil ich in diesen zwei Wochen mehr verdiene als in den ganzen drei Sommermonaten davor. In der heißen Zeit ist meine komplette Ware nur Trödel. Die alten Polster müffeln, die Schränke und Kommoden dünsten den Geruch überständiger Mottenkugeln aus, vor allem die Bücher und Zeitschriften riechen nach Moder und Staub. Umsatzmäßig kann man den Sommer knicken. Im September stelle ich mein Sortiment auf Bavaricaum. Herzen, Seppelhüte oder Fäkalhumor auf Naturholz, »Wenn’s Arscherl brummt, is Herzerl gsund!«, kommen niemals in mein Schaufenster, aber Gamsbärte, Charivari oder handgeschnitzte Hirschhornknöpfe wohl. Der ausländische Gast vor meinem Laden versteht sofort, dass er bei Antiquitäten Gossec originale Souvenirs erbeuten kann.
Eine gewisse Geschmeidigkeit muss man in meinem Gewerbe schon an den Tag legen, wenn man überleben will. Auch ältere Mädchen besuchen heutzutage kein Geschäft mehr für Mieder- oder Galanteriewaren. Der Dessous-Shop und die Bijouterie laufen aber rasend gut. Dementsprechend hat sich mein Berufsstand vom Trödel-, Gebraucht- oder Nostalgiewarenhandel zu einer Art Kunstagentur entwickelt. Wir vermitteln Interessenten gut gepflegte Antikschätze und tragen in unserer Brusttasche vierfarbig gedruckte Visitenkarten mit Reliefprägung, auf denen ein besonders schönes Stück in appetitlich nussigem Braun den Kunden anstrahlt. In München trägt der Kaufmann den Pelz zwar inwendig, aber mehr als sonst wo gilt, dass schon der bloße Anschein von Schäbigkeit den beruflichen Selbstmord bedeutet.
Nachschub für meinen Laden bekomme ich über Haushaltsauflösungen, die ich kostenlos anbiete. Die guten Stücke wandern in mein Sortiment, der Rest wird an Ort und Stelle zu
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