Lilith Parker
»Greynock. Gestern Abend wurde eine junge Frau im Industriegebiet in Höhe Benton Street und Oldfield Road von einem offensichtlich geistig verwirrten Mann angegriffen. Die Schichtarbeiterin war gegen 23.30 Uhr auf dem Weg zur Bushaltestelle, als sie von einem grauhaarigen, ungepflegt wirkenden Mann angefallen wurde. âºEr stand so urplötzlich vor mir, als käme er aus dem Nichts!â¹, berichtete sie der Polizei. âºIch wollte ihm mein Geld geben, doch er sagte, er wolle etwas viel Wertvolleres â mein Blut!â¹ Arbeitskollegen hörten die Schreie der jungen Frau und eilten ihr zu Hilfe, woraufhin der Angreifer flüchtete. Die Polizei fahndet nach dem Mann und bittet die Bevölkerung um sachdienliche Hinweise.«
Greynock Daily,
Sonderausgabe 11/2012
J etzt rück endlich raus mit der Sprache!«, forderte Lilith, während sie den Flur zu Emmas Zimmer entlanggingen. Sie platzte fast vor Neugierde. »Was ist denn so unglaublich geheim, dass du es uns nicht in der Schule verraten konntest?«
Emma fuhr mit einem verärgerten Blick zu ihr herum. »Pscht! Nicht hier.« Sie legte verschwörerisch den Zeigefinger an die Lippen, wobei sie an ihrer etwas zu lang geratenen Nase hängen blieb.
»Entschuldigung«, flüsterte Lilith und sah zu Matt, der grinsend die Schultern in die Höhe zog.
Als sie Emmas Zimmer unter dem Dach betraten, schlugihnen schwülwarme Luft entgegen, die vom würzigen Geruch feuchter Erde und fremdartiger Pflanzen getränkt war. Unter den groÃen Fenstern, die in die Dachschräge eingelassen waren, züchtete Emma vom Aussterben bedrohte magische Gewächse, die zur Herstellung eines Hexentranks unerlässlich waren. Auch wenn sich erst an ihrem dreizehnten Geburtstag herausstellen würde, ob sie die Hexenkräfte ihrer Mutter geerbt hatte, beschäftigte sie sich schon jetzt voller Eifer mit der Hexenkunst. Das euphorische Lachkraut fand Lilith zwar noch witzig, da es bei jeder Berührung in Gelächter und Gekicher ausbrach, aber mit einem brenzligen Distelhorn, das tödliche Feuerdornen besaÃ, oder einem hackenden Messerfarn hätte sie niemals freiwillig ihr Zimmer geteilt. Im Vorbeigehen achtete sie darauf, keiner dieser angriffslustigen Pflanzen zu nahe zu kommen. Matt jedoch war weniger vorsichtig.
»Nicht den gemeinen FingerbeiÃer anfassen!«, rief Emma in letzter Sekunde, als seine Hand nur noch wenige Zentimeter von einer Pflanze entfernt war, deren Blüte aus einer rosafarbenen Kugel mit Plüschhaaren bestand, die so flauschig waren, dass man den unwiderstehlichen Drang verspürte, sie zu berühren. Hastig zog Matt seine Finger zurück und murmelte etwas von »gemeingefährlich«.
»Meine Güte, ist das heià hier drin!«, stöhnte Lilith.
»Tut mir leid, aber die Pflanzen mögen keine Kälte.«
Sie zogen ihre Jacken aus, auf denen gerade die letzten Schneeflocken den Kampf gegen die Hitze aufgaben und zu Wasser zerschmolzen. Da Emma sie direkt von der Schule zu sich nach Hause gelotst hatte, trugen sie alle noch dieSchuluniform der St.-Nephelius-Schule. Matt warf seinen Rucksack achtlos auf den Boden und setzte sich neben Lilith aufs Bett. »Also, was ist los?«
Emma lieà sich ihnen gegenüber auf ihren Schreibtischstuhl sinken, nur um einen Moment später wieder aufzuspringen und aufgeregt im Zimmer umherzugehen.
»Ich brauche eure Hilfe. Meine Mutter hat bald Geburtstag und ich möchte ihr etwas ganz Besonderes schenken. Etwas wirklich Seltenes, das schwierig zu bekommen ist.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Friedhofsgras!«
Sie warf den beiden einen erwartungsvollen Blick zu, während Lilith und Matt regungslos zurückstarrten. Friedhofsgras? Emma schien wieder einmal vergessen zu haben, dass sie beide erst kürzlich in das Geheimnis der Untotenwelt eingeweiht worden waren und somit keine Ahnung hatten, von was sie redete.
Matt zog eine Augenbraue in die Höhe. »Und was ist das für ein sagenhaftes Gras?«
»Es ist eine wichtige Zutat für Hexentränke«, lieà sich Emma zu einer Erklärung herab. »Wie der Name schon sagt, wächst das Gras auf dem Friedhof und kann nur bei Vollmond um Punkt Mitternacht geerntet werden. Der richtige Zeitpunkt ist exakt dann, wenn es anfängt zu schluchzen.«
Erstaunt stellte Lilith fest, wie selbstverständlich sie diese Information hinnahm.
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