Muenchen - eine Stadt in Biographien
grausames Märchen aus ferner Zeit. Betrachtet man aber die Fotos von ihrem lebendigen Gesicht, liest man die lebenslustig unbekümmerten Passagen in ihren Tagebüchern, besucht man den Ort ihrer mutigen Taten, stellt sich ein Gefühl ein, als hätte sie einem gerade noch etwas zugerufen, einem die Hand auf die Schulter gelegt, zur Beruhigung, zur Aufheiterung. Sie könnte hier auf der Freitreppe im Lichthof der Universität sitzen, mit ihren ernsten Augen, dünn und drahtig, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen. Wartet auf ihren Bruder
Hans,
dass er endlich aus der Vorlesung kommt und sie beide die Leopoldstraße hinaufgehen bis zur
Franz-Joseph-Straße 13 ,
der gemeinsamen Wohnung, in der die anderen,
Willi Graf, Christoph Probst, Alexander Schmorell,
mit
Professor Huber
in der Küche sitzen und diskutieren.
Alles ist ganz nah und doch ganz fern. Im nordwestlichen Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität steht steinern und stumm eine kleine Sophie-Scholl-Büste 29 ( ▶ F 2 ) diskret in der Ecke, und verlässt man den in jüngster Zeit von außen fein renovierten Bau, betritt man den
Geschwister-Scholl-Platz,
setzt den Fuß auf das leuchtende Messing der Bodenskulptur, die uns an die Flugblattaktion der beiden Scholls für immer erinnern soll.
Die Geschwister Scholl und ihre Freunde und Helfer waren mutige Kämpfer gegen den Terror der Nationalsozialisten. 1943 wurden sie als Staatsfeinde von der Gestapo verhaftet, verhört und ermordet. Golo Mann schrieb: »Sie fochten gegen das Riesenfeuer mit bloßen Händen, mit ihrem Glauben, ihrem armseligen Vervielfältigungsapparat, gegen die Allgewalt des Staates.«
Die Kindheit verbrachten sie in Ulm. Gut eingebettet in eine Familie, die Mutter, die bis zur Heirat als Diakonissin gearbeitet hatte, der Vater, ein gütiger, weltoffener Mann, dem die christlich-humanistischen Werte, nach denen er seine Kinder erzog, eine Selbstverständlichkeit waren; ein Steuer- und Wirtschaftsprüfer, nicht geneigt, sich von dem Gedröhne und den Parolen der nationalsozialistischen Kampfredner den Geist vernebeln zu lassen. Die Scholls boten ihren Kindern eine Kindheit wie im Bilderbuch, Sophie und ihre Geschwister
Inge, Hans, Elisabeth
und
Werner
wuchsen im Biotop der liberal denkenden Eltern auf, die nur ein Erziehungsziel zu haben schienen, nämlich dass ihre fünf Kinder verantwortlich denkende und handelnde Persönlichkeiten entwickeln konnten. Stets waren die Eltern darauf bedacht, die Kinder nicht zu bevormunden, sie in freiem Geist und an der lockeren Leine groß werden zu lassen.
Als sie mit ansehen mussten, wie diese Kinder den Verlockungen der Klänge der Fanfaren und den hell leuchtenden Fackeln auf den Leim gingen, wie sie darum bettelten, mit von der Partie sein zu dürfen, im Bund Deutscher Mädel (BdM), in der Hitlerjugend, ersparte der Vater ihnen nicht, sich mit seinen Befürchtungen auseinanderzusetzen. Er blickte hinter die Dinge, und was er sah, war Rassismus, Kriegstreiberei, Antisemitismus und Nationalismus in seiner dumpfesten Variante. Die Kinder hielten den Vater an, die positiven Seiten an der »neuen, modernen Welt« zu sehen, die der Herr Hitler zu schaffen versprach, Arbeit und Lohn, nicht zu vergessen die Autobahnen. Wie eben in einer Familie diskutiert wird: Die Kinder werfen den Eltern ewigen Skeptizismus vor, die Eltern befürchten, ihre Brut gerät an einen Rattenfänger.
VERBOTE SCHÜREN DIE ZWEIFEL
Hans Scholl durfte als Fahnenträger des Jungbanns zum Reichsparteitag nach Nürnberg, seine kleine Schwester Sophie tat sich bei den Jungmädels hervor. Aber die »neue Zeit« bekam bald Risse. Vor allem für Sophie. Als ein HJ -Führer ihrem Bruder Hans eines seiner Lieblingsbücher, Stefan Zweigs »Sternstunden der Menschheit«, wegnahm, weil der Autor Jude war, wuchs ihre Empörung. Auch die beliebten slawischen und ungarischen Volkslieder durften abends am Lagerfeuer nicht mehr gesungen werden, man sollte sich gefälligst an deutsches Liedgut halten.
Wenn man weltoffen und liberal erzogen ist, tut man sich schwer mit dem blinden Gehorsam, den der Führer von jedem Einzelnen forderte. Sophies Zweifel wurden genährt, als sie den Grund erfuhr, warum ihre blonde blauäugige Freundin
Luise
nicht in den BdM eintreten durfte. Luise war Jüdin, und Sophie konnte und wollte diese Ungerechtigkeit einfach nicht verstehen. So fing es bei Sophie Scholl an. »… Was hatte man in Wirklichkeit aus dem Vaterland gemacht? Nicht Freiheit nicht
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