Muetter ohne Liebe
Einfluss des Muttermythos leicht vergisst: Die Welt, in der Kinder groß werden und Erfahrungen im Hinblick auf Zuwendung und Lieblosigkeit machen, besteht nicht nur aus Mutter. Im Licht der gewonnenen Erkenntnisse entstehen, jenseits des Muttermythos, neue Fragen rund um die Liebe zwischen Mutter und Kind. Können und sollen wirklich die Mütter allein für die Art von fürsorglicher Liebe zuständig sein, die ein Kind braucht, um gut zu gedeihen? Was ist mit den Vätern? Anderen Personen im sozialen Umfeld? Welche Rolle spielen gesellschaftliche Systeme und Institutionen im Hinblick auch auf die Mutterliebe? Was wäre anders, wenn wir auf den Muttermythos verzichten würden? Könnte nicht sogar die Beziehung zwischen Müttern und Kindern entspannter und liebevoller sein? Wäre nicht überhaupt besser für Kinder gesorgt? Solchen Fragen widmet sich das letzte Kapitel des Buches, das die Überwindung des Muttermythos und seine Folgen thematisiert.
Zur Veranschaulichung meiner Darstellungen möchte ich auch Mütter sprechen lassen. Zitate, die nicht mit Quellenangaben versehen sind, stammen aus Begegnungen mit Frauen aus meiner eigenen psychotherapeutischen Praxis.
Gaby Gschwend, Zürich
Im April 2009
1 Mutterliebe
Dieses Kapitel beschäftigt sich unter historischen und psychologischen Vorzeichen mit dem Phänomen der Mutterliebe und wird von folgenden Fragen begleitet: Handelt es sich bei der Mutterliebe um einen Instinkt, ist sie naturgesetzlicher Art? Ist sie ein Gefühl oder eine bestimmte Art von Verhalten? Ist sie immer und überall gleich oder fällt sie, interkulturell und historisch betrachtet, verschieden aus? Entsteht Mutterliebe «automatisch», wenn eine Frau Mutter wird und ist sie überhaupt auf die biologische Mutter beschränkt?
1.1 Zur Geschichte der Mutterliebe
Die meisten Menschen glauben, Mutterschaft und Mutterliebe seien zeitlose Phänomene. Wir machen uns wenig bewusst, dass unsere heutigen Vorstellungen davon eine Geschichte haben und ideologisch geprägt sind. Mutterliebe ist weder eine übergeschichtliche Konstante noch eine universelle Haltung von Müttern, die unabhängig von Zeit und Raum existiert. Zwar werden Kinder seit jeher «bemuttert» und erfahren Fürsorge und natürlich gab es zu allen Zeiten liebevolle Mütter. Vorstellungen, dass die Mutterschaft Sinn und Zweck, Beruf und die eigentliche wahre Erfüllung eines Frauenlebens sei und das Kind nur in mütterlicher Obhut gut gedeihen könne, sind jedoch kulturgeschichtlich gesehen vielleicht gerade einmal zehn Minuten alt und ein Produkt des (bürgerlichen) 19. Jahrhunderts. Vorher sah es ganz anders aus mit den Vorstellungen von Mutterliebe, der Bedeutung der Mutter und der Beziehung zwischen Mutter und Kind. Die folgenden Ausführungen zur Geschichte der Mutterliebe beziehen sich in erster Linie auf die Werke von Elisabeth Badinter und Yvonne Schütze, die zu diesem Thema über europäische und amerikanische Verhältnisse profund und aufschlussreich geforscht und geschrieben haben.
1.1.1 Das 18. Jahrhundert: Mutterschaft ohne Sentimentalitäten
Noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war Mutterliebe mit keinem speziellen sozialen und moralischen Wert verbunden. Mutterschaft lag fern jeder Idealisierung und mütterliche Aufgaben erfuhren keine besondere Beachtung oder Wertschätzung. Auch um Kinder wurde nicht viel Aufhebens gemacht. Ihre Wertigkeit, ihre Rolle und ihr Ansehen ist nicht zu vergleichen mit der heutigen Stellung des Kindes in unserer Gesellschaft. Im Allgemeinen zählten Kinder, insbesondere in der Kleinkindphase, nicht viel; vor allem von Frauen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten, wurden sie nicht selten als Unglück betrachtet. Frauen aller Gesellschaftsschichten waren mehr oder weniger ständig schwanger und hatten oft sechs, acht oder mehr, natürlich nicht geplante Kinder. Und selbstverständlich arbeiteten die meisten Frauen schwer, in der Landwirtschaft oder im familiären Handwerksbetrieb, als Tagelöhnerinnen auf dem Land oder als Arbeiterinnen in der Stadt, mit Unterbrechungen nur für die Zeit des Wochenbetts. Die Säuglingssterblichkeit war hoch und das nicht nur in den ärmeren Bevölkerungsschichten. Kinder, so sie überlebten, begannen mit sechs oder sieben Jahren hart zu arbeiten oder absolvierten eine Lehrzeit,oft auswärts, fern der Familie. Schon früh hatten sie einen Beitrag zur Wirtschaft sgemeinschaft der Familie zu leisten und waren Kranken- und
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