Muetter ohne Liebe
Erfahrung. Mütter bekennen verschämt, auch ambivalente, sogar feindselige Gefühle ihren Kindern gegenüber zu empfinden und sie sprechen darüber, wie einsam, überfordert, gelangweilt und wütend sie sich zeitweise mit ihren Kindern allein im Heim fühlen. Sie bekennen, dass ihnen die Bereitschaft zur grenzenlosen Selbstaufopferung und zum Verzicht auf ihre eigene Identität nicht selbstverständlich ist. Sie werfen die Frage auf, ob die «Natur» des Kindes tatsächlich einen Verzicht auf die Individuierung der Frau verlange. Vor allem aber entdecken die Mütter, dass sie mit diesen Empfindungen und Überlegungen weder allein noch «abnormal» sind.
Auch die Psychologie erkennt allmählich, dass die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes nicht mehr als ausschließliches Produkt der Zweier beziehung Mutter-Kind verstanden werden kann, sondern auch von anderen Einflussgrößen abhängig ist, z.B. vom Einfluss anderer Bezugspersonen und der Peer Group, der Gruppe der Altersgenossen, in der sich ein Kind bewegt. In den 1990er Jahren nähern sich die Lebens- und Geschlechtswelten von Frauen und Männern bis zum Zeitpunkt der Mutterschaft weitgehend einander an und auch eine veränderte Einstellung der Männer zu ihren Kindern macht sich bemerkbar. Väter nehmen nicht nur an Schwangerschaft und Geburt Anteil, sondern beteiligen sich zunehmend, quasi hinter dem Rücken der Experten, im wahrsten Wortsinn eigenhändig an der Pflege und Erziehung auch der kleinen Kinder. Sie stellen Vertreter einer ersten Generation von Männern dar, deren Identifikation mit der beruflichen Karriere zugunsten einer verstärkten Familienidentifikation nachlässt. Gleichzeitig, wir sind mittlerweile im 21. Jahrhundert angelangt, wünschen sich, laut einer Umfrage des deutschen Familienministeriums 2005, 95 % aller jungen Frauen ein Leben mit Beruf, 85 % wollen gleichzeitig Kinder. Nur 5 % erhoffen sich ein Leben als Hausfrau.
Was werden wohl, angesichts neuer gesellschaft licher Entwicklungen, dereinst ForscherInnen und HistorikerInnen über Mutterschaft und Mutterliebe im 21. Jahrhundert zu berichten haben? Das Verhalten von Müttern über einen längeren Zeitraum der Geschichte bis heute zeigt, wie variabel Mutterschaft und Mütterlichkeit – als Verhalten dem Kind gegenüber – gestaltet wurden und werden. Stillen oder Nichtstillen, Zärtlichkeit oder Härte, Fürsorge oder Vernachlässigung, Verwöhnen oder Versagen – der kurze Streifzug durch die Geschichte der Mutterliebe verdeutlicht: Wie beim allgemeineren Begriff der Liebe wird auch unter Mutterliebe je nach den Maßstäben verschiedener Gruppen, Zeiten oder ganzer Kulturen etwas anderes verstanden. Sie ist kein von der Natur vorgegebener, bei allen Frauen unabhängig von Raum und Zeit gleichermaßen vorhandener Instinkt, der an ein spezifisches, fürsorgliches Verhaltensmuster geknüpft ist. Wäre dies der Fall, würde Mutterliebe nicht so verschieden ausfallen. Mutterschaft und Mütterlichkeit hängen weitgehend von der persönlichen Geschichte und Biografie der jeweiligen Mutter und von den geschichtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab.
1.2 Zur Psychologie der Mutterliebe
Die Psychologisierung der Beziehung zwischen Mutter und Kind hat, wie wir gesehen haben, das Anforderungsprofil an die Mutterliebe stark erhöht und zu einem beträchtlichen Anstieg des Pegels mütterlicher Schuldgefühle beigetragen. Andererseits haben uns psychologische Beobachtungen und Forschungen geholfen, die geistige und seelische Welt des Kindes besser zu verstehen und uns Anregungen gegeben, was eine positive Entwicklung unterstützt und welche Rolle nahe stehende Bezugspersonen dabei spielen. Im Bewusstsein, dass auch die Theorien von heute als Kinder ihrer Zeit verstanden werden müssen, seien trotzdem im Folgenden einige psychologische Theorien zu den Grundlagen der Mutterliebe vorgestellt.
1.2.1 Theorien zur Entstehung der Mutterliebe
Zunächst einmal ist nicht nur auf sprachlicher, sondern auch psychologischer Ebene interessant, dass schon der Duden unter dem Begriff «Mutter» eine doppelte Bedeutung unterscheidet. Demnach ist die Mutter a) «die Frau, die geboren hat» und b) «die Frau im Verhältnis zu ihrem Kind». Der Begriff der Mutterliebe fasst beide Bedeutungen zusammen und versteht darunter ein spezielles Schutz- und Fürsorgeverhalten, das auf einer besonderen Bindung und Bezogenheit der Mutter zu ihrem leiblichen Kind beruht, wobei
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