Muschelseide
Sie war auch noch heute schön, auf eine triumphale, eitle, zickige Art. Und sie meinte offenbar, dass, wenn sie mit neunzig nicht sagte, was sie zu sagen hatte, sie es niemals mehr sagen würde. Weil ich das richtig fand, hatte ich mich auch nicht eingemischt. Doch nun brach ich das Schweigen.
»Wann hast du aufgehört zu malen?«
Sie reckte die Schultern, betrachtete mich, obwohl kleiner gewachsen, auf gebieterische Art von oben herab.
»Aufgehört? Wie kommst du darauf?«
» Ich dachte, du seist zurückgekommen, weil du nicht mehr malen wolltest ... «, entgegnete ich wie ein dummes Schulmädchen.
»Da hast du danebengedacht«, sagte Francesca schroff.
Sie plante eine Ausstellung in Valletta, die letzte oder die vorletzte, ohne fixe Idee. In ihrem Alter, meinte sie, seien fixe Ideen geschmacklos. Sie hatte alles dabei, was sie zum Zeichnen, Malen und sonst noch brauchte. Eine Staffelei würde sich wohl noch auftreiben lassen, oder? Und irgendwo in diesem Haus würde es doch sicherlich einen Raum geben, den sie als Atelier nutzen konnte.
»Doch, im dritten Stockwerk«, beeilte ich mich zu sagen, um meine Scharte auszuwetzen. » Ein paar Zimmer sind voller Gerümpel. Dinge, die wir längst aus dem Haus schaffen sollten.«
»So? Im dritten Stockwerk?«, sagte sie zwischen den Zähnen. »Da waren schon früher Dinge, die man nicht im Haus haben wollte ... «
Ihr Ausdruck war eisig. Ich wurde allmählich ungehalten. Was hatte ich jetzt schon wieder Falsches gesagt?
»Also, wenn dir die Treppen zu hoch sind ... «
Sie winkte ab, griff nach ihrem Löffel. Sie hatte eine wundervolle Haltung bei Tisch und eine sehr elegante Art zu essen.
»Schon gut, ich werde mir die Zimmer ansehen. Auf die Treppen kommt es nicht an. Aber das Licht, das muss stimmen.«
Der Zitronenschaum, den Domenica gerade serviert hatte, war perfekt gelungen. Doch Ricardo starrte nur stumm auf seine Schale. Ich sah seine Hände zittern und dachte: Er hat genug getrunken. Er fürchtete Francescas Unberechenbarkeit, ihren völligen Mangel an Anpassung und Takt. Sie war eine anstrengende Frau. Noch schlimmer: Er fühlte sich von ihr ungeliebt.
Nach dem Portwein saßen wir nicht mehr lange bei Tisch, mein Vater und Francesca gähnten um die Wette. Der Frühlingsmond schien, und als ich auf die Veranda trat, um Luft zu schnappen, brachte der Wind den Duft der Orangenblüten und den salzigen Geruch des Meeres. Und plötzlich schien die Luft in Schwingungen zu geraten. Zehn Uhr! Sämtliche Kirchenglocken läuteten. Ich liebte die Glocken, ihr Dröhnen zwischen den Häusern, die akustischen Wogen hoch über den Dächern. Als langsam Stille eintrat, spürte ich eine Gegenwart neben mir, roch den Geruch nach Zigaretten, Ambra und Lebkuchen.
Francesca stand rauchend da, ich hatte sie nicht kommen hören. Im Licht, das aus der Fenstertür schien, schimmerte ihr Kleid rubinrot. Sie war eine Frau, die zerknitterte Rohseide zu tragen wusste, ohne dass der Stoff wie ein alter Vorhang baumelte.
»Komisch«, begann sie, »früher habe ich das Gebimmel gehasst.«
Sie stockte. Ich sah sie an, wartete. Kirchenglocken waren keine Luftwellen. Kirchenglocken riefen zum Gottesdienst. Ich machte mich auf die nächste bissige Bemerkung gefasst, doch sie sagte mit einem kleinen Seufzer:
»Heute kommt mir das alles vertraut vor. «
Die Nachtluft war kalt. Ich verschränkte fröstelnd die Arme. »Hattest du nicht manchmal Sehnsucht nach Valletta? « »Nein.« Francescas Antwort kam schnell und entschieden.
»Nur Sehnsucht nach anderen Orten.«
»Mir gefällt es hier eigentlich gut«, sagte ich in freundschaftlichem Tonfall.
Sie schlug eine Mücke tot.
»Dein Umfeld ist zweifellos grandios. Pass aber auf, dass du nicht verblödest.«
»Keine Angst. Inzwischen hat sich vieles geändert.« Sie rauchte in tiefen Zügen.
»Das kannst du nicht beurteilen. Du warst damals noch nicht auf der Welt.«
Ich nickte.
»Zum Glück habe ich die alte Scheiße nicht gekannt.«
Ein Schimmer von Belustigung trat in ihre Augen. Die dünnen Lippen zuckten.
»Dann wartest du also nicht auf einen Mann, wie das früher bei uns üblich war?«
Ich grinste sie an.
»Ganz bestimmt nicht, Tante Francesca. Ich bin Forscherin.«
Falls sie überrascht war, ließ sie es sich nicht anmerken. »Gefällt dir der Beruf?«, fragte sie ganz sachlich.
»Ich könnte mein Leben mit nichts anderem verbringen.« »Nun, das macht die Dinge einfacher für dich.«
»O ja«, sagte ich.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher