Muschelseide
rauchte wortlos, wobei sie in den dunklen Garten blickte. In ihrem Inneren musste eine tiefe Stille sein, die der Stille der Nacht um uns herum entsprach. Ich fragte mich, ob es nicht doch Heimweh war, das sie letztendlich hierher geführt hatte. Aber so, wie ich sie einschätzte, würde sie sich lieber die Zunge abbeißen, als es zuzugeben.
»Müde?«, fragte ich nach einer Weile.
Sie fing die Asche in der hohlen Hand auf.
»Flugreisen machen mich duselig. Ich werde wohl langsam alt.«
»Komm, ich bring dich nach oben«, schlug ich vor. »Die Treppe ist steil.«
Schroff wies sie die Hand zurück, die ich ihr reichte.
»Ich gehe noch nicht an Krücken. Wenn ich hier wohne, muss ich ohne dich auskommen.«
»Ganz, wie du willst, Tante Francesca.«
»Lass das ›Tante‹ gefälligst weg«, sagte sie. »Ich heiße Francesca. «
4. Kapitel
J ahre und Entfernungen bewirken eine Umwandlung, verändern die Beziehungen zwischen den Menschen. An einem anderen Ort ist man selbst anders. Aber die Erinnerungen bleiben.
Francesca konnte nicht vergessen, wie altmodisch die Familie einst gewesen war. Mir hatte man viel Freiheit zugebilligt. Selbst Onkel Matteo, der Hochwürdige Herr Vicarius, der dann und wann unser Haus beehrte, hatte nicht mehr die Macht besessen, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Die Wahrheit war, dass ein Beichtstuhl mit dem dösenden Priester hinter dem schwarzen Vorhang schon frühzeitig wilde Gefühle der Abneigung in mir geweckt hatte. Ich kam aus einer Familie, die Neuzeitliches nur in gemäßigter Form tolerierte. Trotzdem hatte ich den richtigen Beruf gefunden, pflegte eine mehr oder weniger glückliche Beziehung zu einem Mann. Aber das konnte nur geschehen, weil meine Mutter zunehmend schwacher wurde und mein Vater irgendwann die Zügel aus der Hand gab. Sogar die Nonnen, bei denen ich meine Internatsjahre verbrachte, pflegten nicht mehr die Illusion, Gott und die Heiligen stünden uns bei jeder Lebenshürde schirmend zur Seite. Uniform und Pietät, das schon. Aber sie hatten aus uns keine Schäfchen gemacht, uns auch nicht in unsinniger Weise vor dem Leben geschützt. Dadurch blieb uns später die Ernüchterung erspart, als wir die heile Klosterwelt mit der wirklichen Welt vertauschen mussten.
Ich hatte davon profitiert, während Francesca noch alles gekannt hatte, was die Frau an Räumlichkeiten und Familie fesselte: Korsettzwang, Mangel an frischer Luft und Bewegung, der abendliche Rosenkranz, die Gebete und Zusatzgebete, bis die Knie schmerzten, die Unruhe ungenutzter Kräfte, das Übermaß an Nahrungsmitteln. Francesca hatte die Wahl, entweder zu gehen oder zu bleiben. Sie war ihrem Käfig entronnen, hatte sich der Welt bemächtigt und viele Leute verärgert. Dieses Verschwinden mit achtzehn, ich wusste ja nichts Genaues. Ricardo? Dem fiel es schwer, etwas über die Familie zu sagen, das nicht nett war. Wer war im Bild, damals? Ganz Valletta? Wohl kaum. Die geschlossenen Kreise der Familie bewahrten solche Geheimnisse. Aber es gab immer Leute, die was zu wissen glaubten. Man sagte nicht die Wahrheit, nicht, was wirklich war. Francesca trug die Folgen, bis ihr der gestärkte Kragen platzte. Es war absurd, aber es war eine andere Epoche. Ich, die siebzig Jahre später geboren war, blickte auf diese Epoche zurück, wie von einem Raumschiff aus auf eine andere Welt. Cecilias bourgeoise Tragödie war einfach nicht mehr zeitgemäß. Aber Francesca hatte noch so viel angestaute Wut in sich, so viel Heimtücke auch, sie kam einfach nicht darüber hinweg. Ich merkte erst jetzt, wie neugierig ich geworden war. Tu mir den Gefallen, Francesca, erzähl mir die Geschichte, auch wenn sie fast hundert Jahre alt ist und verstaubt. Oder fürchtest du die Schatten, die das Alter angefüllt hat mit Zorn und Melancholie? Du bist Malerin, Francesca. Du weißt, dass es Erinnerungen gibt, leuchtend und farbig wie lebende Korallen. Und andere, düster wie tote Gewässer. Welche Farben haben deine Erinnerungen, Francesca? Nur darauf kommt es an.
Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen, zwei ausgeprägte Falten führten von der Nase zu den Mundwinkeln, man sah es bei Tageslicht, beim Frühstück. Aber sie war geschminkt und gepudert. Ihr Gesicht hatte sie gewissenhaft studiert, wusste, wie man Linien und Falten milderte. Kosmetik ja, aber die beste. Sie hatte sich zweimal liften lassen. Sie hatte es kein drittes Mal versucht, aus Angst vor der Narkose.
Sie kam auch nicht im Morgenmantel, trug vielmehr Hosen,
Weitere Kostenlose Bücher