Muschelseide
wohnen, zog ich in eine WG, wo es laut und chaotisch und alles andere als brav zuging. Ich war im Internat von Nonnen erzogen worden, jetzt erprobte ich die große Freiheit. Die Eltern hielten betroffen durch, bis ich von allein zu Verstand kam. Ich beendete mein Studium; danach fing der Ernst des Lebens an.
Dass junge Forscher zunächst wenig verdienen, erfuhr ich bald am eigenen Leib. Meine Eltern fragten nie, brauchst du Geld? Ich wusste, dass ich auf sie zählen konnte, aber ich hätte sie nur darum gebeten, wenn ich ausgeraubt worden, schwer krank gewesen wäre oder in Gips gelegen hätte, und nichts von alldem traf ein. Ich gab vier Jahre lang Schwimmunterricht, arbeitete in einem Warenhaus in der Sportabteilung. Wir Malteser sind zäh. Hätten wir keine Willenskraft, wären wir jetzt Türken. Wir auf unseren Inseln verhalten uns, als dösten wir zwischen Kirchen und Denkmälern vor uns hin, aber der Eindruck täuscht. Zorn und Spott liegen uns mehr als Jammern und Hadern. Wir blicken auf eine zu harte Vergangenheit zurück, als dass wir uns – weil wir heutzutage wohlhabend sind – hätten unbehaglich fühlen können. Ricardos sanfte, höfliche Art zeigte nicht, dass er dem Johanniterorden angehörte, in dessen Verwaltung er eine bedeutende Rolle spielte. Ebenso selten sprach er von seinen Bankgeschäften, die er in den letzten Jahren ohnehin nur als Berater weiterführte.
Ich verkaufte also Badeanzüge, Schnorchel und Schwimmflossen, acht Stunden am Tag, in der Touristensaison auch sonntags, und lernte in der Freizeit Apnoetauchen. Was faszinierte mich daran? War es das Herantasten an die eigenen Grenzen, die sportliche Herausforderung, die Formen und Farben und Gelassenheit der Tiefe? Ich konnte es nicht sagen, es war eine Mischung von alldem. Ich lernte auch, wie man mit einer Unterwasserkamera umgeht, und konnte im Stab von Jean-Michel Cousteau mitwirken, als er einen Dokumentarfilm an der libanesischen Küste drehte. Ein unglaubliches, unverschämtes Glück: Jemand fiel aus, sie suchten Ersatz, und ich war gerade an der richtigen Stelle. Ein paar Jahre lang gehörte ich dann dazu. Wir waren ein Team von Archäologen, Biologen, Geologen und Zoologen, die auf Cousteaus Forschungsschiff die Weltmeere bereisten. Alle gut eingespielt, alle solidarisch. Daneben hatte ich im Freitauchen einige Rekorde gebrochen, war in die Schlagzeilen der Illustrierten gekommen. Auf diese Weise war »Azur«, ein internationaler Kosmetikkonzern, auf mich aufmerksam geworden. 1999, als Cousteau seine Ocean Future Society gründete, verließ ich ihn, weil Azur mir ein Exklusivangebot gemacht hatte. Der Konzern stellte Hightechkosmetik auf der Basis von Mineralstoffkonzentraten her, die aus gewissen Algen gewonnen wurden. Da die marine Welt beträchtlichen Schaden genommen hatte, bestand meine Aufgabe darin, nach jenen Algen zu forschen, die die kostbaren Spurenelemente noch enthielten. Darüber hinaus entsprach ich als sportliche junge Frau dem »Image« der Marke und wurde auch bei Werbefotos für Sonnenschutz und Selbstbräuner eingesetzt. Nachdem ich etliche Jahre von der Hand in den Mund gelebt hatte, genoss ich den Luxusjob. Der europäische Sitz des Konzerns befand sich in Hamburg.
Als ich mir nach einigen Jahren eine Wohnung leisten konnte, wählte ich die Schweiz, vorwiegend ihrer guten Flugverbindungen wegen. Ich kaufte ein Loft in Zürich, geräumig, transparent und minimalistisch. Ohne Teppiche und ohne Gemälde, weder heitere noch düstere. Die Eltern erschraken ein wenig vor dem Kubus, meinten jedoch, dass ich mein Geld gut angelegt hätte. Inzwischen tauchte ich im Roten Meer, in der Karibik, in den Gewässern von Okinawa und Hawaii und auch im Amazonas-Delta. Neugier und Begeisterung erfüllten mich, ich hatte Zeit zum Bewundern, Zeit auch, mich zu fürchten, das gehörte dazu. Ich sammelte Erfahrungen und Erlebnisse, Erinnerungen und Bilder für eine Zukunft, von der ich nicht wusste, wann sie beginnen würde, bis sie mir unvermittelt hautnah kam. Da gab ich vieles auf, aber nicht alles.
Mein Vater hatte bemerkt, dass ich Francescas Porträt betrachtete, und nickte mir zu.
»Sie war sehr ungestüm. Lavinia und sie hatten immer Streit.«
Lavinia, Ricardos ältere Schwester, war Musiklehrerin gewesen. Sie hatte Generationen von Schülern die Freude am Gesang genommen und zwei Verlobte in die Flucht geschlagen. Vor drei Jahren war sie ledig – aber nicht jungfräulich – verstorben, und alle fühlten sich
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