Muße: Vom Glück des Nichtstuns (German Edition)
zurückzog. Den politischen Betrieb und den Rummel der Stadt sei er irgendwann leid gewesen, erzählte er, doch seine Verbindungen habe er behalten, und ab und zu kämen frühere politische Weggefährten, Unternehmer und selbst Konzernchefs zu ihm heraufgewandert. Und alle würden sie dieselbe Erfahrung machen wie wir, das Essen und den Wein genießen und sich darüber wundern, dass es ihnen hier oben oft besser schmecke als in einem Vier-Sterne-Restaurant im Tal.
Ein schelmisches Lächeln zog über sein runzliges Gesicht, als er uns sein Erfolgsgeheimnis enthüllte. »Sehen Sie diesen Trampelpfad?«, sagte er und zeigte auf einen steinigen Weg, der vom Tal heraufführte. »Natürlich hätte ich den längst teeren lassen können, sodass man mit dem Auto bis zu meiner Hütte fahren könnte – doch ich werde mich hüten!« Denn dann wäre der Zauber seiner Alm bald vorbei. »Wer bei mir speisen will, kommt um eine zweistündige Wanderung nicht herum«, erklärte das alte Schlitzohr. »Und wenn so ein Konzernchef erst einmal zwei Stunden geschwitzt hat, dann erscheint ihm dieser Ort wie ein Paradies und jeder Schluck Wein wie ein Gedicht.« Die satten Stadtbewohner erlebten bei ihm eben einen Genuss, den sie kaum mehr kannten – das Gefühl, wirklichen Hunger und Durst stillen zu können. Und genau deshalb kämen sie immer wieder. »Würde ich ihnen die Zufahrt erleichtern, erschiene ihnen mein Ziegenkäse nur halb so gut, und am Ende fangen sie womöglich noch an, über meinen Wein zu meckern.«
Was der Almwirt seinen Gästen bescherte, war nichts anderes als das Glück, einen tief empfundenen Mangel beheben zu können. Man könnte auch sagen: Er lehrte sie, ganz im jeweiligen Augenblick zu leben. Denn in solchen Glücksmomenten sind wir völlig präsent, die üblichen Alltagssorgen wie weggeblasen, und wir haben das Gefühl, »Leben pur« zu erfahren. Da wir in solchen Momenten unsere Aufmerksamkeit ungeteilt einer einzigen Sache zuwenden (und sei es nur einem alten Ziegenkäse), brennt sich dieses Erlebnis so nachdrücklich in unser Hirn ein, dass wir noch Tage später davon schwärmen.
Nun ist es den wenigsten unter uns vergönnt, vor jedem Essen erst einen zweistündigen Almaufstieg bewältigen zu müssen oder besser: zu dürfen. Die Kunst der ungeteilten Aufmerksamkeit können wir freilich auch im Alltag kultivieren. Dazu bedarf es nur eines radikalen Umdenkens: Statt der Logik des Immer-mehr zu folgen, gilt es, sich klarzumachen, dass das Glück manchmal gerade in der Beschränkung liegt. Denn ob wir etwas wirklich genießen, hängt nicht so sehr von der Sache selbst ab, sondern eher von unserer eigenen Fähigkeit, uns voll und ganz darauf einzulassen.
Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Denn die übliche Werthaltung unserer Gesellschaft weist genau in die entgegengesetzte Richtung: Man redet uns ein, dass uns umso eher das Glück winke, je mehr Angebote und Optionen wir hätten. Das bessere Leben, so haben wir gelernt, ist jenes mit dem dickeren Bankkonto, der noch größeren Wohnung, dem noch schnelleren Auto, der noch weiteren Reise. Gerade in der schier unendlichen Vervielfältigung der Möglichkeiten liegt das Glücksversprechen unserer »Multioptionsgesellschaft«, die jedem verheißt, nach seiner ganz eigenen Façon selig werden zu können.
Bis in die 1980er Jahre galt vielen Gesellschaftstheoretikern ein Mehr an Möglichkeiten tatsächlich als Garant für das Glück. Allmählich aber bröckelt dieser Glaube. Wie die Sozialpsychologie nämlich mittlerweile gezeigt hat, ist oft das Gegenteil richtig: Weniger ist mehr.
Stellen Sie sich vor, Sie betreten einen üppig ausgestatteten Supermarkt, der alles unternimmt, um seine Kunden zufriedenzustellen. Die Regale biegen sich unter dem neuesten Warenangebot, Sie können zwischen 30 verschiedenen Kartoffelchip-Varianten wählen, haben 100 Käsesorten zur Auswahl und mehr als 200 unterschiedliche Weine. Das ganze Kaufhaus folgt dem Credo der modernen Warenwelt: je mehr Optionen, desto besser. Wird Sie das wirklich glücklich machen?
Wohl kaum. Viel wahrscheinlicher ist, dass Sie am Ende gestresst aus dem Laden treten, unendlich viel Zeit mit Suchen und Auswählen zugebracht haben und schließlich das unbefriedigte Gefühl haben, eventuell doch die knackigsten Chips und den aufregendsten Wein verpasst zu haben. Denn das Abwägen verschiedener Alternativen kostet erstens Zeit und zweitens Energie, und es bringt zudem sogenannte
Weitere Kostenlose Bücher